Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
nahm er einen dicken Schmöker, der am Rande seines Schreibtisches lag, schob den Akt Schlumpf darunter und schlug mit der flachen Hand ein paarmal auf den Buchdeckel.
»Ja«, sagte er und es war ein Seufzer. Er war Junggeselle, schüchtern wahrscheinlich. Vielleicht beneidete er den Burschen Schlumpf. »Ja«, sagte er noch einmal, diesmal ein wenig fester. »Und was hat das alles zu bedeuten, Herr Studer?«
»Oh, nüt Apartigs«, sagte Studer. »Sonja Witschi möchte eine Aussage machen.«
Nun war dies sicher eine Übertreibung, denn Sonja Witschi hatte sich bis jetzt immer standhaft geweigert, eine Aussage zu machen. Sie war sogar stumm gewesen wie ein Fisch.
»Fräulein Witschi«, der Untersuchungsrichter war überaus höflich. »Ich werde sogleich meinen Schreiber rufen lassen, und dann werden Sie uns mitteilen, ob Sie etwas über den Tod Ihres Vaters auszusagen haben.« Er sah nicht auf und ärgerte sich innerlich über die Phrase.
Studer meldete sich. Er wolle gern den Gerichtsschreiber machen, sagte er. Dann sei man mehr unter sich. Und er könne ganz gut mit der Maschine umgehen, wenn es sein müsse. Mit zwei Fingern zwar. Aber es werde wohl langen, wenn Sonja nicht zu schnell erzähle. Der Untersuchungsrichter nickte. Schlumpf mußte aufstehen, er stand an der Wand und starrte auf Sonja. Und Sonja begann zu erzählen.
Der Fall Witschi zum dritten und vorletzten Male
Hinter allem habe der alte Ellenberger gesteckt…
»Das ist der Baumschulenbesitzer in Gerzenstein«, warf Studer ein.
»Woher wissen Sie das?« fragte der Untersuchungsrichter.
»Der Vater hat's mir erzählt. Vor vierzehn Tagen, das weiß ich noch genau. Wir sind zusammen spazieren gegangen, es war ein Sonntag, schön war's. Wir sind durch den Wald gelaufen. Der Vater hat gesagt, er halte es daheim nicht mehr aus, die Mutter quäle ihn so, und auch der Armin, wegen der Versicherung, die er verpfändet habe, und da habe der Vater gesagt, hinter allem stecke der alte Ellenberger. Der reize die Mutter immer auf.«
»Versicherung?« fragte der Untersuchungsrichter.
»Wissen Sie, die Heftli!…« sagte Studer, als ob damit alles erklärt wäre. »Und…«
»Und dann haben wir auch noch eine Unfall und Lebensversicherung bei einer Gesellschaft gehabt…«
Studer unterbrach wieder:
»Und die war dem alten Ellenberger für fünfzehntausend Franken verpfändet worden, nicht wahr?«
Sonja nickte.
»Das war vor zwei Jahren«, sagte sie. »Damals hat das ganze Unglück begonnen. Das Vermögen der Mutter war in fremden Aktien angelegt, ich weiß nicht mehr, wie sie geheißen haben, sie haben viel Zinsen gebracht…«
»Dividenden ausgezahlt…« stellte der Untersuchungsrichter fest.
»Ja, und dann sind die Papiere keinen Rappen mehr wert gewesen. Da hat der Vater seine Lebensversicherung genommen und hat sie beim Ellenberger verpfändet.
Damals war der Vater viel mit dem Schwomm zusammen, mit dem Lehrer Schwomm. Der Lehrer Schwomm hat einen Verwandten gehabt im Elsaß. Und der war bei einer Gesellschaft, einer deutschen, die versprach 10% Zinsen. Ja, ich glaub', so war es. Und der Vater war so froh, er sagte noch, jetzt könne er das verlorene Geld wieder zurückgewinnen und ist zum Ellenberger gegangen und hat auf seine Versicherung Geld aufgenommen. Das Geld hat der Verwandte vom Lehrer eingesteckt und ist damit nach Deutschland gefahren… Aber wir haben nie wieder etwas von ihm gehört – vom Geld mein' ich. Der Mann ist in Basel verhaftet worden. Er hat nicht nur in Gerzenstein die Leute betrogen, auch in den Städten. Die Gesellschaft hat schon bestanden, in Deutschland, er aber hat gar nichts mit ihr zu tun gehabt. Der Lehrer Schwomm hat den Vater gebeten, nichts von der Sache zu erzählen. Und der Vater hat auch geschwiegen…«
»Ich glaube, diese ganze Geschichte brauchen wir nicht ins Protokoll aufzunehmen, Herr Studer«, sagte der Untersuchungsrichter.
»Gewiß, gewiß…« antwortete Studer, drückte ein paarmal auf den Umschalter und faltete dann die Hände. »Jetzt ist es ganz bös geworden«, erzählte Sonja weiter. »Es war kaum mehr auszuhalten daheim. Kein Geld, viel Schulden… Der Armin, der nicht weiter studieren konnte und jeden Tag hässiger wurde, die Mutter, die vom Morgen bis zum Abend klagte… Damals kam der Onkel Aeschbacher oft. Er konnte sehr lieb sein, der Onkel Aeschbacher. Ich hatte ihn fast so gern wie den Vater. Als er sah, daß ich immer trauriger wurde, verschaffte er mir die Stelle in Bern. Die Mutter bekam den Zeitungskiosk. Mit dem Vater kam der Onkel nicht gut aus. Ich weiß selbst nicht, warum. Und der Vater beobachtete ihn immer, so heimlich; manchmal hatte ich Angst. Für wen? Ich weiß es selbst nicht… Er ist ein kurioser Mann, der Onkel Aeschbacher…« wiederholte Sonja und schwieg einen Augenblick.
»Gewöhnlich kam der Onkel Aeschbacher am Abend. Dann war ich allein zu Hause. Die Mutter mußte im Kiosk bleiben bis zum letzten Zug, um neun Uhr, der Vater kam auch spät und der Armin… Mit dem Armin war schlecht auszukommen.«
Schweigen. Der große Wind vor den Fenstern war still geworden. Das Licht im Zimmer war grau.
»Die andern im Dorf haben das nie gewußt«, sagte Sonja und ihre Stimme war leise, »aber der Onkel Aeschbacher war ein unglücklicher Mann. Ich hab' es gewußt. Und ich hab' ihn gern gehabt, obwohl er den Vater nicht hat leiden können. Auch der Vater…«
»Ja, ja, schon gut«, sagte der Untersuchungsrichter und man merkte es ihm an, daß er ungeduldig wurde. »Mich interessiert am meisten, was am Abend des Mordes passiert ist!«
Sonja blickte auf, sie sah den Untersuchungsrichter vorwurfsvoll an und dann sagte sie mit einer Stimme, die stark an die ihrer Mutter erinnerte:
»Ich muß von dem, was früher geschehen ist, doch auch erzählen, sonst kommt Ihr ja nicht nach!«
»Sowieso«, meinte Studer, »nur erzählen lassen. Wir haben ja Zeit. Schlumpfli, eine Zigarette?«
Der Bursche Schlumpf nickte. Sonja erzählte weiter.
»Vor einem halben Jahr etwa ist zwischen dem Vater und dem Onkel Aeschbacher alles anders geworden. Es sah so aus, als ob der Onkel vor dem Vater Angst hätte. Das war…« Sonja stockte, »das war nach einem Abend…« Sonja wurde rot und schielte zu Schlumpf hinüber. Der stand aufrecht da, rauchte schweigend, sichtlich aufgeregt und nahm tiefe Lungenzüge…
»An einem Abend, da war ich allein mit dem Onkel Aeschbacher. Er war traurig. Es war Anfang Dezember. Draußen war's dunkel. Ich hab' die Lampe anzünden wollen. Da sagt der Onkel Aeschbacher: ›Laß die Lampe, Meitschi, mir tun die Augen weh.‹ Dann schweigt er und hält seine dicke Hand wie einen Schirm über die Augen.
Ich saß am Tisch. ›Es geht alles schief. Sie haben mich nicht in die Kommission gewählt…‹ In welche Kommission? hab' ich gefragt. ›Ah, das verstehst du nicht‹, sagt er drauf. Und ich soll ein wenig zu ihm kommen. Er saß in einem tiefen Lehnstuhl, ganz in einer finsteren Ecke. Ich bin hingegangen, er hat mich auf seine Knie genommen und mich festgehalten. Ich hab' gar keine Angst gehabt, denn er ist immer gut zu mir gewesen, der Onkel Aeschbacher.«
Seufzer.
Da plötzlich ist die Tür aufgerissen worden, das Licht ist angegangen. In der Tür steht der Vater und der Armin. ›So‹ sagt der Vater, ›hab' ich dich endlich erwischt, Aeschbacher. Was fällt dir ein, meine Tochter zu karessieren?‹ Der Onkel hat mich weggestoßen, ist aufgesprungen: ›Du bist besoffen, Witschi!‹ hat er gesagt. Und dann hat er mich fortgeschickt. Mehr hab' ich nicht hören können. Sie sind dann noch etwa eine Stunde beisammen gesessen. Der Armin war auch dabei. Von dieser Zeit an hat der Onkel kaum mehr mit mir gesprochen. Aber mit dem Vater ist es immer schlimmer geworden, der alte Ellenberger von der Baumschule hat ihm Papiere gegeben, die hat er in Bern umgewechselt. Dann verschwand der Vater