Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
der Stoff war der gleiche wie jener, den er unter der Matratze in Pieterlens Zimmer gefunden hatte… Und auch von der Enveloppe sprach Studer nicht, die in der Busentasche seines Rockes steckte… Sie enthielt etwas Staub… Staub, den er aus den dichten weißen Haaren der Leiche gebürstet hatte. Vielleicht ließen sich unter dem Mikroskop unter den sicher vorhandenen Aschenteilchen kleine, glitzernde Sandkörner feststellen…
Warum er dem Dr. Laduner den ersten Fund und die zweite Vorkehrung wohl verschwieg? Studer hätte es nicht sagen können. Wenigstens vorläufig nicht. Manchmal war es ihm, als sei ein Kampf auszufechten zwischen ihm und dem schlanken, gescheiten Arzte. – Kampf?… Das war nicht ganz richtig… War es nicht eher eine Kraftprobe? Eine kleine freundschaftliche Rache? Dr. Laduner hatte Studer ›angefordert‹, um ›behördlich gedeckt zu sein‹. War es nicht Ehrensache, dem Arzte zu beweisen, daß man etwas mehr war als ein bequemes Schild… Oder besser: daß man mehr war als ein gewöhnlicher Parapluie, den man aufspannt, wenn es regnet…
Die Halle des Mittelbaues war kühl, auf dem grünen Marmor der Donatorentafel schimmerten die Goldbuchstaben. Der Portier Dreyer war nirgends zu sehen.
Sie gingen die Stufen hinab, die beiden so ungleich gearteten Gefährten, der Wachtmeister in seinem dunklen Konfektionsanzug neben dem Dr. Laduner, weiß, sauber, federnd und auch jetzt noch angestrengt betriebsam, so, als wollte er sagen: ›Vorwärts, vorwärts, ich hab keine Zeit, ich habe zu tun… Und wenn der Direktor zehnmal tot ist, was geht das eigentlich mich an…‹
Aber vielleicht ging man fehl, wenn man dem Seelenarzt Laduner derartige Gedanken unterschob…
Sie ließen das Kasino links liegen, bogen ab zur Ecke, wo das R ans K stieß. Die Sonne war noch hoch und spiegelte sich in den Fenstern, die grell blendeten wie winzige Scheinwerfer… Studer rundete ein wenig den Rücken und blickte mit schiefgeneigtem Kopf zu jenem Fenster auf, das über seinem Gastzimmer lag und aus dem, nach der Aussage Schüls, des Kriegsverletzten, Matto vorschoß und zurück, vor und zurück… Es war Aberglaube, sicherlich… Am Morgen noch hätte Studer gelacht, wenn man ihm gesagt hätte, er werde sich vor Matto fürchten… Aber nach dem Fund in der Heizung?… Es veränderte die Situation wesentlich…
Sie traten durch die Türe ins Sous-sol. Ein Gang, lang und hallend, mit gewölbter Decke, der Fußboden aus Zement… Eine Türe, mit schmutziggelber Ölfarbe gestrichen…
»Geben Sie mir ihren Pass, Studer!« befahl Dr. Laduner.
Er fuhr mit dem Schlüssel ins Loch, schlug die Klinke herab, riß die Türe auf, trat ein… Seine Bewegungen, seine Schritte waren genau so rasch und präzis wie am Morgen… Er stieg die Eisenleiter hinab. Auf der fünften Sprosse, von unten gezählt, machte er Halt. Die Füße der Leiche hielten ihn auf. Da stützte Laduner die rechte Hand auf eine Sprosse in der Höhe seiner Schulter, hob sich leicht auf die Fußspitzen, sprang ab und landete in tiefer Kniebeuge. Er stand dann aufrecht, lang, breitschultrig und weiß im grauen Staubdunkel. Studer blieb auf dem oberen Absatz stehen und verfolgte jede Bewegung des schlanken Mannes. Er sah auch die Leiche und dachte, es werde ihm nie gelingen, in einem Rapport den Eindruck zu schildern, den der tote Direktor machte…
Der alte Mann lag auf dem Rücken, weil er rücklings abgestürzt war, und seine Beine ragten empor, gegen die steile Eisenleiter gelehnt. Die Hosen waren bis zur Mitte der Waden gerutscht… Graue Wollsocken, leinene Unterhosen, deren weiße Bändel die Socken festhielten…
Er trug keine eleganten Sockenhalter, der alte Direktor Borstli, der so gerne mit hübschen Pflegerinnen gegangen war. Sein Gesicht war bedeckt mit staubfeiner gelber Asche, und seine Augen waren verdreht unter den halbgeöffneten Lidern…
Dr. Laduner stand vor der Leiche und hatte die Hände über dem grauen Ledergürtel in die Seiten gestützt. Dann bückte er sich, eine Hand löste sich von der Seite, und ganz sanft hob der Zeigefinger das eine Augenlid des Toten.
»Ge-wiß«, sagte er leise. »Er ist tot. Wollen Sie eine Photographie anfertigen?«
Er sprach scharf zischend, und das kam wohl daher, weil die Worte Mühe hatten, zwischen den aufeinandergepreßten Zähnen durchzudringen… Er richtete sich auf und blickte in die Höhe.
»Nein«, antwortete Studer, »Ich glaube, das ist unnötig. Wenn…« – er stockte – »wenn… wirklich jemand den Herrn Direktor…«
»Niedergeschlagen hat…« ergänzte Laduner, »so ist es dort geschehen, wo Sie jetzt stehen. In diesem Falle ist es wirklich unnötig, die Stellung der Leiche zu fixieren…«
Bewußte Sachlichkeit! Unwillkürlich schüttelte Studer leicht den Kopf. Schließlich hatte Doktor Laduner mit dem alten Direktor jahrelang zusammengearbeitet, und da klang es ein wenig sonderbar, das ›die Stellung der Leiche zu fixieren…‹ Etwas reizte den Wachtmeister an dem Dr. med. Ernst Laduner – und wenn er es hätte erklären sollen, so wäre es wohl nicht ganz einfach gewesen… Einen Reiz übte der Arzt auf den Wachtmeister aus… Er stieß ab, er zog an… Er wirkte abstoßend, wie manchmal maskierte Gesichter wirken. – Aber dies Gefühl ist ja nicht eindeutig; etwas anderes kommt hinzu: der Wunsch, zu schauen, wie das wahre Gesicht aussieht, das sich hinter der Maske verbirgt. – Die Maske – Laduners Lächeln. Wie sollte man es anstellen, um die Maske zu lüpfen?… Vor allem, es brauchte Zeit, es brauchte Geduld… Nun, Wachtmeister Studer konnte sich das Zeugnis ausstellen, daß er geduldig sein konnte, denn das hatte er lernen müssen…
Laduner hob die Beine des Toten von der Leiter. Er tat es mit sanften Bewegungen, und das gefiel Studer. Endlich lag der Direktor gerade ausgestreckt auf dem staubigen Steinboden. Da hob Laduner noch den dunklen Lodenkragen auf, der verknüllt neben der Leiche lag, rollte ihn zusammen und schob ihn unter den Kopf des Toten. Er nickte, während er diesen Kopf einen Augenblick in der Hand wog, so, als bestätige sich eine Vermutung. Dann nahm er etwas vom Boden auf: eine alte Brille war es, die Gläser eiförmig, in Stahlfassung. Und Dr. Laduner reichte die Brille dem Wachtmeister, der sich auf die Kniee niederlassen mußte, um sie zu erreichen. Dabei lag um die Lippen des Arztes ein Lächeln, das gar nicht mehr dem Visitenlächeln glich, im Gegenteil, es war weich, ein wenig wehmütig… Ein Lächeln, wie es entsteht, wenn man Dinge aus einer vergangenen Zeit betrachtet, nach der man Sehnsucht hat, weil man meint, sie sei anders gewesen und besser als die unsrige…
… Wieder der Hof voll Sonne, wieder die glotzenden Fenster, grell blendend wie die Augen von Traumungetümen, und die Stiegen und die Halle des Mittelbaues… Dr. Laduners weiße Leinenhosen waren beschmutzt, auf der linken Achsel seines Hemdes war ein Rußfleck…
»Seine Taschen waren leer?« fragte der Arzt. »Sie haben sie doch untersucht, Studer…«
»Sie waren leer…« sagte Studer.
»Soso… leer… merkwürdig…«
Schweigen.
Dann: »Blumenstein kann die Sektion machen. Es wäre ja Blödsinn, einen Gerichtsarzt zuziehen zu wollen…«
Studer zuckte die Achseln. Ihm konnte es gleich sein. Aber Blumenstein? Wer war schon Blumenstein? Am liebsten hätte er sein Büchlein zu Rate gezogen, man wurde ja mit Namen überschwemmt hier in der Anstalt… Blumenstein?… War das nicht der lange Arzt, der wie ein Storch auf einem Bein gestanden hatte, heute morgen im Wachsaal B? Der Schwager des Direktors? Der vierte Arzt?… Warum sollte Dr. Blumenstein die Sektion machen?…
Sie standen vor der Türe des Ärztebüros, und drinnen knallte es. Ein vielstimmiges Gelächter folgte… Studer begann, Dr. Laduners Eigenheiten zu kennen: den Schlag auf die Klinke, das Aufreißen der Tür…
Beim Fenster stand der welsche Assistent und hob gerade von neuem eine Kartonmappe, um sie mit aller Wucht auf den kleinen Schreibmaschinentisch niedersausen zu lassen, an dem mit rotem, verängstigtem Gesicht die kleine baltische Ärztin saß, die heute morgen den Rüffel wegen des Bundesratsattentäters Schmocker hatte einstecken müssen…
»Neuville! Lassen Sie die Kindereien!« rief Dr. Laduner streng.
Dr. Blumenstein saß ganz in der Nähe der Tür und hatte die Füße auf den Schreibtisch