Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
Aber der Direktor sei doch verunfallt!
– Das sei eben noch gar nicht gesagt.
»Aufstehen!«
Studer trat an den Mann heran, betastete ihn von oben bis unten, zog aus der einen Tasche das Portemonnaie heraus, den Schlüsselbund aus der anderen und überlegte dabei, wie die Verhaftung ohne allzu großes Aufsehen zu bewerkstelligen sei. Man konnte beim Portier dem Randlinger Landjäger telephonieren. Das würde das beste sein.
»Schurz abziehen! Kittel anlegen!« befahl Studer. Das Weitere werde sich finden.
Und folgsam ging Gilgen zum Schaft, zog den Kittel an, ohne seine Hemdärmel herabzustreifen… Ein armseliger Kittel war es, sicher hatte ihn die Frau geflickt, bevor sie krank geworden war…
– Im Nachttischli, sagte Gilgen schüchtern, habe er noch die Photi von seiner Frau mit den beiden Kindern. Ob er die mitnehmen dürfe?
Studer nickte. Der Nachttisch stand eingeklemmt zwischen Fenster und Bett. Gilgen ging um das Bett herum, nahm eine Brieftasche aus der Schublade, zog ein Bild daraus hervor, das er lange betrachtete und dann dem Wachtmeister über das Bett hinreichte.
»Lueget, Studer…« sagte er. Der Wachtmeister nahm den Karton in die Hand, kehrte sich ab, um das Licht besser auf das Bild fallen zu lassen… Die Frau, die es darstellte, hatte ein mageres Gesicht mit einem gutmütigen Lächeln, an jeder Hand hielt sie ein Kind. Und während Studer noch die Photographie betrachtete, war es ihm plötzlich, als habe sich etwas im Zimmer verändert. Er sah sich um… Gilgen war verschwunden…
Das offene Fenster! Studer stieß das Bett beiseite, beugte sich weit hinaus.
Da unten lag der kleine Gilgen, fast in der gleichen Stellung, wie der alte Direktor, am Fuße der Eisenleiter. Kein Blut… Aber in der Sonne leuchtete der Kranz der kupferroten Haare… Der Hof war leer. Studer ging langsam zum Zimmer hinaus, durch den Glasabschluß, stieg durchs Stiegenhaus hinab, trat hinaus. Und dann hob er den Körper des kleinen Gilgen, – leicht war er – sachte vom Boden auf und stieg schweren Schrittes die Stiegen zum ersten Stock wieder hinauf…
Im Zimmer angekommen, legte er die Leiche auf die rote Bettdecke und blieb dann vor ihr stehen… Und Studers Kopf war von einer dumpfen Wut erfüllt.
Aber da schreckte der Wachtmeister auf. Ein schmalzige Stimme begann im Aufenthaltsraum zu singen, und sie sang:
»Irgendwo auf der Welt fängt der Weg zum Himmel an,
Irgendwo, irgendwie, irgendwann…«
Wer hielt ihn da zum besten?…
Studer wußte nicht, daß der Portier Dreyer gerade in diesem Augenblick den großen Empfangsapparat eingeschaltet hatte, weil es vier Uhr war und es zu seinem Dienst gehörte, die Abteilungen der Anstalt Randlingen mit Radiomusik zu versorgen. Er hatte sich ein wenig verspätet, darum war er mitten in ein Lied geraten. Und so sang der Lautsprecher, oben an der Wand des Aufenthaltsraumes B, dem kleinen Gilgen ganz unschuldigerweise ein groteskes Sterbelied.
Wie gesagt, Studer wußte nichts vom Ursprung des Liedes. Nur wild wurde er. Er trat in den Aufenthaltsraum, sah sich wütend um, suchte nach der Stimme, die ihn zu verhöhnen schien, und entdeckte schließlich den Kasten oben an der Wand. Gute drei Meter vom Boden hockte er und hatte nur ein riesiges mit Stoff überspanntes Maul. Studer packte einen der Stühle ganz oben an der Lehne. Dann schwang er ihn hoch und traf den Kasten so gut, daß die Stimme nur noch: »Irgend…« sang, um dann im Krachen zersplitternden Holzes unterzugehen.
Beruhigt kehrte Studer in das kleine Zimmer zurück. Er drückte dem kleinen Gilgen die Augen zu. Dabei fiel sein Blick in die offengebliebene Nachttischschublade. Dort lag ein Bild…
Eine Amateuraufnahme: Dr. Laduner in weißem Arztkittel mit dem Maskenlächeln auf dem Gesicht stand neben seiner Frau. Hinter ihm war das Eingangsportal der Anstalt zu erkennen.
Hinten auf der Aufnahme stand:
»Dem Pfleger Gilgen zur Erinnerung, Dr. Laduner.«
Wie kam der Arzt dazu, einem Pfleger eine Photographie zu widmen? Studer stand da und studierte. Schließlich beschloß er, sich auf die Suche zu machen nach dem Abteiliger Jutzeler. Er sehnte sich nach fachmännischem Rat…
Kollegen
Dem Abteiliger Jutzeler mit den braunen Rehaugen merkte man es an, daß ihm der Wachtmeister Studer gar nicht willkommen war. Er stand unten im Garten, sein Gesicht war noch rot vom Schwingen, aber er hatte seine weiße Kutte wieder angelegt, und der Pflegerorden leuchtete rot.
– Ob er einen Augenblick mitkommen könne? fragte Studer und sah den Mann so ernst und dringend an, daß Jutzeler nickte.
– Ob etwas passiert sei? fragte der Abteiliger. – Der Gilgen habe sich zum Fenster hinausgestürzt. Er liege jetzt oben, berichtete Studer trocken und fragte, wie man allzu großes Aufsehen vermeiden könne.
»Der Gilgen!« Jutzeler nickte. »Tot!«… Dann schüttelte er den Kopf.
Die beiden betraten das Zimmer neben dem Aufenthaltsraum. Eine kurze Zeit stand Jutzeler schweigend vor dem Toten. Dann zog er einen Stuhl heran, deutete darauf, Studer nahm Platz. Der schlanke Jutzeler setzte sich auf den Bettrand neben den Toten und meinte, es sei vielleicht doch besser, daß es so gekommen sei…
Eines schien festzustehen, man war fatalistisch in der Anstalt Randlingen.
»Warum?« fragte Studer.
Ach, seufzte Jutzeler, der Wachtmeister wisse noch gar nicht, wie es in solch einem Betrieb zugehe…
Er schien nachzudenken, ob er weiter erzählen solle, da unterbrach ihn Studer: er habe ihn schon lange fragen wollen, warum er eigentlich am Mittwochabend mit dem Direktor Krach bekommen habe…
Jutzeler wollte wissen, wer dem Wachtmeister das erzählt habe…
– Das sei ja gleichgültig, meinte Studer, übrigens wisse er auch, daß an dem Krach der tote Gilgen schuld gewesen sei…
Jutzeler hatte sich zurückgelehnt und die Hände gefaltet. Er betrachtete Studer lange und prüfend, und der Wachtmeister senkte den Blick nicht… Er wußte, wie das Ergebnis der Prüfung ausfallen würde…
Wie oft war es ihm ähnlich ergangen!… Zuerst sahen die Menschen in ihm nur den Fahnder, den Polizisten, vor dem man sich in acht nehmen mußte, und schließlich war dies Mißtrauen verständlich. Wer hatte heutzutage ein ganz reines Gewissen? – Aber wenn es Studer dann gelang, einen Menschen ganz allein vor sich zu haben, schwand gewöhnlich das Mißtrauen, der andere spürte, daß da ein Mann vor ihm saß, ein älterer Mann, von dem ein seltsam sicherer Frieden ausging… Und manchmal, wenn Studer nicht ganz unzufrieden mit sich war, bekam er Größenideen: er meinte dann nämlich, er sei eine starke Persönlichkeit; und vielleicht irrte er sich nicht einmal.
Endlich schien der Abteiliger Jutzeler zu einem Entschluß gekommen zu sein; denn er begann zu erzählen. Es war eine lange Geschichte, die er erzählte, sitzend neben der Leiche des kleinen Gilgen. Mehrmals wurde Jutzeler gerufen, sein Name schallte durch die Gänge des B, aber der schlanke Pfleger bewegte sich nicht, sondern sprach weiter, ein wenig eintönig, die Hände ums Knie gefaltet… Und obwohl seine Geschichte die Geschehnisse der letzten Tage nur streifte, erklärte sie doch manches…
Sie begann mit der Gründung der Randlinger Blechmusik.
Die Pfleger, die Blasinstrumente spielen konnten, hatten beschlossen, sich zusammenzutun. Ein Dirigent wurde gesucht, gefunden: Knuchel mit Namen, Pfleger auf K. Breites Kinn, Wulstlippen, Bibelleser, Mitglied einer Sekte des Dorfes. Die Bläser hielten eine Versammlung ab. Knuchel verlangte folgendes: Es dürften nur Choräle und ernste Volkslieder gespielt werden, keine Märsche, keine Tänze. Vor jeder Probe müsse ein Kapitel aus der Bibel vorgelesen, gebetet werden, nach der Probe ebenfalls… Der