Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich GlauserЧитать онлайн книгу.
Bett lächelte. Draußen war rote Dämmerung…
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Studer. »Merci denn, Jutzeler. Und was macht ihr mit dem… dem… Gilgen?«
»Wenn's dunkel ist, bringe ich ihn mit dem Schwertfeger ins T. Wir waren drei, die zusammengehalten haben, der Schwertfeger vom U 1«… Studer sah den Mann mit den Armmuskeln, der wie ein Melker aussah…, »der Gilgen und ich. Wir haben zusammengehalten. Jetzt sind wir noch zwei… Aber schließlich, jetzt hat Dr. Laduner das Wort…«
Studer kam an der Loge des Portiers vorbei. Er trat ein, erkundigte sich höflich, ob Dreyer auch Brissagos zu verkaufen habe. Die Frage wurde bejaht, Studer bediente sich, dann wies er auf die verbundene Hand und fragte ganz ruhig:
»Warum habt ihr mir nicht erzählt, daß ihr das Fenster im Direktionsbüro eingeschlagen habt? Und euch dabei verwundet habt?«
Dreyer lächelte ein wenig blöde. Er besann sich, dann entschloß er sich:
Ja, er habe Schritte im Büro gehört und sei nachschauen gegangen, da sei er überfallen worden… Und habe sich an der Hand verletzt… – Warum er nichts gesagt habe?… – Ganz einfach, weil inzwischen der Direktor verschwunden sei, und er Angst gehabt habe vor Komplikationen… Woher habe der Herr Wachtmeister erfahren, daß er im Büro gewesen sei?
»Kombination…« sagte Studer und hatte den Triumph, Bewunderung in den Augen des Portiers Dreyer zu lesen…
Es konnte stimmen, es konnte auch nicht stimmen… Dreyer konnte auch einen persönlichen Grund gehabt haben, im Büro sich umzusehen. Nur war ein solcher Grund schwer zu erraten… Man mußte wieder einmal warten… Aber zum Dr. Laduner ging man nicht z'Nacht essen. Nein, lieber nicht… Allein sein tat not. Übrigens schlug die Turmuhr der Anstalt mit ihrem gewohnten sauren Klang sechs Uhr. Studer ging die Stufen vom Hauptportal hinab, ging weiter durch die Allee mit den Apfelbäumen auf das Dorf Randlingen zu.
Da sah er vor sich ein Paar schreiten.
Dr. Laduner hielt seine Frau am Arm, und die beiden gingen im Gleichschritt, langsam, durch den Abend, der kühl und erdbeerfarben war… Über den Schneebergen lag eine orangene Wolke.
Die beiden da vorn sprachen nicht. Und Studer fand, daß die beiden durchaus nicht einem Liebespaar glichen. Aber eines war deutlich zu spüren… Die beiden gehörten zusammen, sie hielten zusammen. Und Studer hatte das tröstliche Gefühl, daß, was auch passieren mochte, der Dr. Laduner wenigstens nicht allein sein würde. – Denn wahrlich, die Situation war viel weniger rosig als der Abend…
Beim Metzger und Wirt Fehlbaum ließ sich der Wachtmeister eine Portion Hammen und einen halben Liter Waadtländer bringen. Er aß ein paar Bissen, trank einen Schluck Wein, stand auf und fragte nach dem Telephon.
Frau Laduner gab Bescheid. – Die Frau Doktor möge ihn bitte entschuldigen, sagte Studer, er werde nicht zum Nachtessen kommen, er habe eine wichtige Abhaltung. –
Ja, sagte Frau Laduner mit ihrer tiefen, warmen Stimme, die selbst im Telephon angenehm tönte, aber er solle nicht versäumen, um halb neun zu kommen. Er müsse unbedingt die Aufsichtskommission kennenlernen.
Studer versprach, pünktlich zu sein…
Matto erscheint
Am meisten bewunderte Studer den Arzt Laduner. Er verstand es, Mittelpunkt zu sein und zu gleicher Zeit jedem, der sprach, die Überzeugung beizubringen, daß er, der Redende, die Hauptperson sei… Diplomatisches Geschick…
Den Herrn Pfarrer Veronal mit dem großen Mund ließ er über die Stellung der Landeskirche zur Oxfordbewegung sprechen und lauschte interessiert den langfädigen Ausführungen, unterbrach ihn dann höflich mit einem »Gestatten Sie bitte, Herr Pfarrer«, worauf er sich der Frau Nationalrat zuwandte und lobend von der Armendirektion sprach, die wirklich sehr verständnisvoll auf alle Anregungen eingehe, die von der Heilanstalt ausgingen… Die Frau Nationalrat strahlte, denn ein Bruder von ihr war Adjunkt an der Armendirektion… Übrigens kannte Studer diesen Mann, und er fand, Dr. Laduner übertreibe gar nicht… Beim schwerhörigen Fürsorgebeamten erkundigte sich Laduner nach dem Schicksal eines gewissen Schreier, der zur Begutachtung in Randlingen gewesen und dann ein Jahr in Witzwil versorgt worden war… Wie gehe es dem Manne? Halte er sich gut?… Sicher werde es dem Herrn Fürsorger gelingen, dem Mann bei der Entlassung eine gute Stelle zu verschaffen; nein, nein, die Prognose sei gar nicht ungünstig… Laduner ließ sich auch nicht durch das fortwährende: »Wie me-inet i-ihr?« aus der Ruhe bringen, er wiederholte seine Sätze dreimal, wenn es sein mußte, und inzwischen unterhielt sich Frau Laduner mit der Frau Nationalrat und schenkte Tee ein. Der Herr Pfarrer Veronal trank ihn mit viel Rum. Und Studer auch.
Der Wachtmeister war vorgestellt worden, nun hockte er in der Ecke beim Fenster, stumm, beobachtend.
Um neun Uhr verabschiedete sich die Kommission und Studer blieb sitzen. Dr. Laduner erbot sich, die Mitglieder mit dem Auto nach der Station zu bringen, und das Anerbieten wurde dankend angenommen.
Studer wartete auf die Rückkehr des Arztes in seiner Ecke. Frau Laduner fragte, warum der Herr Studer so schweigsam sei, und erhielt als Antwort ein unhöfliches Brummen. So schwieg auch sie, ging zum Fenster, wo in der Ecke, Studer gegenüber, ein glänzend polierter Kasten auf einem kleinen Tischchen stand. Sie drehte an einem Knopf… Marschmusik. Studer war es zufrieden. Marschmusik war besser als: »Irgendwo auf der Welt…«
Sie warteten beide schweigend auf Laduners Rückkehr. Als dann der Arzt ins Zimmer trat, schickte er seine Frau ins Bett, sehr freundlich und besorgt übrigens, und meinte schließlich: »Sie leisten mir noch Gesellschaft, Studer?«
Der Wachtmeister brummte etwas aus seiner Ecke, das man allenfalls als Zustimmung auffassen konnte…
Laduner schwieg zuerst. Dann sagte er:
»Schad um den Gilgen…« Er schien auf eine Antwort zu warten, aber als es in der Ecke still blieb, fuhr er fort:
»Haben Sie eigentlich darüber nachgedacht, Studer, daß sich niemand unbeschadet lange Zeit mit Irren abgeben kann? Daß der Umgang ansteckend wirkt? Ich habe mich manchmal gefragt, ob es vielleicht nicht umgekehrt ist: daß nur diejenigen als Pfleger, als Ärzte in Irrenanstalten gehen, die ohnehin schon einen Vogel haben, um volkstümlich zu reden. Mit dem Unterschied, daß die Leute, die den Drang verspüren, in Mattos Reich einzudringen, wissen, daß etwas bei ihnen nicht stimmt, unbewußt, meinetwegen, aber sie wissen es. Es ist eine Flucht… Die andern draußen haben manchmal die ausgewachseneren Vögel, aber sie wissen es nicht, nicht einmal unbewußt… Denken Sie, ich bin einmal um die Mittagszeit am Bundeshaus vorbeigegangen und habe die Angestellten herausströmen sehen. Ich bin stehengeblieben und habe mir die Leute angesehen… Es war lehrreich… Gang, Haltung. Der eine hatte den Daumen im Westenausschnitt und ging mit schlenkernden Tritten, sein Gesicht war rot und steif, und ein einfältiges Lächeln lag auf seinem Gesicht… Sieh da! sagte ich, eine beginnende Katatonie!… und versuchte auszurechnen, wann etwa der Schub fällig sein würde. – Ein anderer hatte starre Blicke, sah sich ständig um, dann blickte er wieder eine Zeitlang zu Boden und balancierte vorsichtig auf dem Trottoirrand… Neurotisch, vielleicht schizoid, dachte ich… Ein anderer trug eines jener Lächeln im Gesicht, die man als sonnig zu bezeichnen pflegt, er hatte den Kopf im Nacken, schlenkerte mit dem Stock, grüßte alle Leute… Natürlich: manische Verstimmung wie mein Bundesratsattentäter Schmocker…«
Immer noch spielte das Radio in der Ecke leise Märsche. Es war eine angenehme Begleitung zu den Ausführungen Dr. Laduners.
»Sie haben mit Schül gesprochen, hab' ich gehört? Und er hat Ihnen sein Gedicht verehrt? Sie werden mir zugeben, daß es nicht dumm ist, daß es voll Symbolgehalt ist… Manchmal hab' ich ihn beneidet um seinen Matto… Matto, der die Welt regiert! Matto, der mit roten Bällen spielt und sie wirft, und die Revolutionen flackern auf!… Und die bunte Papiergirlande flattert, und der Krieg lodert… Es hat viel für sich…