Science-Fiction-Romane: 33 Titel in einem Buch. Walther KabelЧитать онлайн книгу.
Dreißig Meter vor uns ein senkrechter Abhang, gekrönt von blendendem Schnee und Eis …
Und über diesen Abhang ragte wie ein ungeheures Glasrohr einer mächtigen Wasserleitung eine Eisspitze des Gletschers tief hinab, und aus ihrer drei Meter weiten runden Öffnung schoß das klare Gletscherwasser in den Abgrund zu unseren Füßen hinunter, verwandelte ihn in einen schäumenden See mit einem brausenden Abfluß.
Vielleicht vierzig Meter war diese Steilwand hoch, vielleicht zehn die Gletscherzunge lang – das Glasrohr – durchsichtig, blau-grün, violett, dunkelgrün – in allen Farben im Sonnenlicht schimmernd.
Und im Sonnenlicht spielten auch die Wasserstäubchen dieser Gletscherbachquelle in allen Regenbogenfarben. – Ein Jammer, daß Worte so wenig eindrucksvoll sind, wenn es gilt, die Eigenart eines Landschaftsbildes wiederzugeben. Nur ein Gemälde hätte dieses Wunder von Farbenpracht und berückender Seltsamkeit getreulich gezeigt. Ich bin weder Maler noch Schriftsteller. Ich bin Olaf Karl Abelsen oder El Gento, und ich schreibe dies an dem Tage, wo wir genau vor einer Woche meinen Freund Coy zur letzten Ruhe beigesetzt haben – neben seinem Großvater und Vater – hoch zu Roß wie diese beiden – beigesetzt in einer wahrhaft königlichen Gruft, wie sie noch kein Potentat irdischer Reiche gefunden. Ich schreibe dies in meiner grünen Laube hart am Ufer der Gallegos-Bucht, und zu meinen Füßen spielen Coys kleine vaterlose Rangen, und meine Hand ist schwer und mein Herz noch schwerer und mein einziger Trost der Gedanke, daß Coy gestorben ist, wie er gelebt hatte: als Mann, als mein Freund, meine Hand in der seinen – mit einem Lächeln auf den Lippen, jenem rätselvollen Lächeln, das allen denen eigen, die den Tod nicht fürchten und die reinen Herzens scheiden.
Ich schreibe – und in mir ist die lebendige Erinnerung an die ganze Zauberpracht jenes Abgrundes, jenes Gletschers, der stolz, einsam und unerreichbar inmitten der weißen Andenhügel das größte Heiligtum eines tapferen, redlichen rotbraunen Volkes darstellt. –
Coy schaute mich an …
»Mistre!!« Er brüllte, mußte brüllen, um den Lärm der zerstiebenden, herabschießenden Wassersäule zu überschreien. »Mistre!!« Seine Hand nahm die meine. »Du mein Freund, Olaf Karl … Du sehen, was kein Weißer schauen sollte … Einer es doch schauen schon: Braanken! Er stehlen Orden … Orden bald wieder an Ort und Stelle sein … – Du mein Freund, Freund aller Araukaner, du jetzt braune Haut, du immer gutes Herz. – Kommen …!«
Und er drehte sich zur rechten Felswand, holte dort aus einer Spalte ein dickes Tau hervor, das oben irgendwo befestigt war.
»He – werden noch klettern können?« brüllte er voller Verständnis für meine gänzliche Erschöpfung.
Ich schüttelte den Kopf.
»Gut – emporziehen … Coy klettern,« sagte er zu mir.
Weiß Gott, Coys Muskulatur war beneidenswert.
Das dicke Seil stammte fraglos von einem gestrandeten Schiff, war tadellos geölt und in Abständen von drei Meter mit später eingeflochtenen Lederschlaufen versehen, die jedem Klettrer ein Ausruhen ermöglichten. Coy turnte mit seinen Satteltaschen und seinem umgehängten Karabiner spielend leicht empor. Müdigkeit kannte er nicht. Nerven erst recht nicht. Wenn wir mal von einem längeren Jagdausflug zurückgekehrt waren, hatte er sogar im Sattel geschlafen. Er verstand es eben, jeden Zeitpunkt rechtzeitig auszunutzen und Geist und Körper, wenn die Gelegenheit da war, vollständig zu entspannen. Aus diesem seinem Kraftakkumulator – besser kann ich’s nicht bezeichnen – schöpfte er dann bei anderen Gelegenheiten den nie ermüdenden Strom von Energie, – eine Kunst, die den Kulturmenschen in den seltensten Fällen eigen ist. Es ist dies in der Tat eine Kunst, die ja besonders bei den orientalischen Völkern von jeher bis zur äußersten Grenze vervollkommnet wurde. Man denke nur an den scheinbaren Zustand tiefsten Insichversunkenseins indischer Fakire: nichts anderes als Entspannung, nichts anderes als das Ausschalten jeglicher äußerer Eindrücke und dadurch innere Krafterneuerung.
Die wenigen Minuten, die Coy zum Erklimmen des Randes des Steilhangs gebrauchte, hatten merkwürdigerweise auch mir zu einer völligen Belebung meines erschöpften Ichs genügt. Fraglos tat dabei der Wunsch, vor meinem braunen Freunde nicht zurückzustehen, das seine. Ich begann gleichfalls zu klettern. Und je höher ich kam, je mehr die frische Luft der freien Berghöhen und der Glanz des Tagesgestirns mich umspielten, desto beweglicher wurde ich. Coy hatte nur kurz zu mir herabgeblickt und war dann verschwunden. In halber Höhe des Abhangs ruhte ich mich aus. Das Tau pendelte leicht hin und her. Das Eisrohr der Gletscherzunge und der enorme Strahl intensiv grünlich schillernden Wassers war jetzt keine vier Meter von mir entfernt. Ich spürte die Kälte, die der Eismasse entströmte, aber es war eine andere Kälte als dort unten im Höllenschlund.
Weiter … Meine Muskeln arbeiteten fröhlich, mein Sinn war heiter und froh. Ich freute mich auf das, was ich sehen würde, – ich ahnte bereits, was allein es sein konnte. Freilich: Die Wirklichkeit war nachher doch noch imposanter, eigenartiger als das Spiel meiner Phantasie.
Weiter … Immer flotter … Jetzt trafen mich die ersten Sonnenstrahlen. Noch vier Kletterschlüsse, ein Schwung, und ich stand in grobkörnigem harten Schnee – auf einem nach Osten zu sich bergab ziehenden Schneefelde, während halb links von mir der durch kahle Berge eingeengte Gletscher mit seiner teils blanken, teils mit Steingeröll bedeckten Oberfläche schroff zu den Höhen eines einzelnen blendend weißen Bergmassivs emporlief.
Von Coy nichts zu sehen …
Anderes sah ich …
Noch weiter links war ein Teil der ungeheuren Eismasse, die ja in steter Abwärtsbewegung begriffen ist, zwischen den nackten Wänden eines kleinen Seitentales festgeklemmt. Dort klafften deutlich erkennbar eine Spalte von vielleicht drei Meter Breite, so daß dieses kompakte Eis dort in dem Tale, das freilich bis obenan ausgefüllt war, die Wanderung nicht mitmachte.
Und dort vor der langen Spalte, die von Talrand zu Talrand lief, lagen Coys Satteltaschen.
Ich begann vorsichtig den Marsch über den Gletscher, benutzte meine Büchse als Bergstock und vermied alle blanken, feucht schimmernden Stellen. Erinnerungen an meine Knabenzeit wuchsen aus der Vergangenheit empor. Neun Jahre war ich gewesen, als meine Eltern mit mir Norwegen besucht hatten. Schon damals war die Entfernung zwischen meinem ernsten, verschlossenen, schwerblütigen Vater und meiner einst so sonnigen, heiteren Mutter, einer echten lebensfreudigen Berlinerin, so groß gewesen, daß auch mein jugendliches Gemüt in dem Vater nur den Feind und Störenfried des zwischen meiner geliebten Mammi und mir bestehenden innigen Verhältnisses betrachtete. Schon damals hatte meine Mutter dahinzuwelken begonnen, und als wir drei während dieser freudlosen Reise im Nordwesten der Fjordstadt Odda oben auf dem bekannten Buarbrä-Gletscher uns befunden hatten, war meine Mutter ins Gleiten gekommen – vielleicht absichtlich – gerade auf eine Gletscherspalte zu, aus deren Tiefen das Gurgeln und Schäumen des Wassers drohend und geheimnisvoll zur Oberwelt empordrang. Ich hatte aufgeschrien, und mein Vater war ohne Besinnen der Bedrohten über die spiegelglatte Eisfläche gefolgt, hatte sie noch ergriffen, bevor der Eisschlund sie verschlingen konnte … Und meines Vaters bleiches Gesicht war mir von damals her ein unauslöschliches Bild geblieben – ein Gesicht, das mich die Wahrheit nicht erraten ließ: auf seine Art hatte er meine Mutter geliebt, und Schreck und Angst blieben noch stundenlang nachher in seinen umflorten Augen.
Erinnerungen …
Erinnerungen – genau wie das hier Niedergeschriebene – Wort an Wort Gereihte, während der Wind in den Blättern meiner Dichterlaube säuselt und Coys Rangen, die ich wie ein Vater liebe, sich im Messerwerfen üben. Und Coy – ist tot …
Coy lebt, wird immer leben, in mir, in meinem Herzen, so lange es noch pocht und hämmert und mein Hirn ernährt.
Coys Satteltaschen nun dicht vor mir. Dicht vor mir die Spalte – grünblau in den Tiefen, voller blanker Höcker, voller Felsblöcke, Steine.
Steine, eingefroren in die Eismasse für alle Ewigkeit … Steine, die eine Treppe bildeten, einen Pfad hinab in das Mausoleum des einzigen Königs von Araukanien.
Steine, auf denen sich die feuchten Abdrücke der