Gesammelte Werke. Isolde KurzЧитать онлайн книгу.
Papa den rauen Butzel einer strengen Ermahnung, das kleine Mädchen ja nicht umzuwerfen und ihr auch sonst keinen Schaden zu tun. Dies hinderte den Wildfang nicht, sich mit schreckhafter Miene vor ihr aufzupflanzen und drei peinliche Fragen an sie zu stellen: Emy, kannst du griechisch? (Er hielt nämlich die dialektfreiere Aussprache unseres Hauses dafür.) – Kannst du mit dem Fuß an den Ohren kratzen? – Sie bebte, denn sie hatte beides noch nicht versucht. Aber nun kam schnell die dritte Frage: Kannst du grunzen wie ein Schwein? Dabei wartete er die Antwort nicht ab, sondern gab alsbald selber den bezeichneten Ton von sich und mit solcher Stärke, dass die arme Kleine fast vor Schreck in die Bohnen fiel.
Bei solcher Gemütsart konnte ihm nichts besser passen als den Ares zu spielen. Ein andermal aber musste er Hektor sein und sich von Edgar-Achilleus fällen lassen. Dass ihm bei unseren Spielen jedes Mal die Rolle eines Unterliegenden zufiel, wurde mit ein Grund zu seiner immer wühlenden heimlichen Erbitterung gegen den älteren Bruder und die Schwester, vor der ich mich im Heranwachsen hüten musste, da er mich oft unversehens mit seinem dicken Kopf anzurennen und umzuwerfen suchte. Edgar, der Bastler, verfertigte einen richtigen antiken Kriegswagen, an dem er vorhatte, den Hektor zu schleifen, allein die zwei Räder wollten nie so recht rollen, da sie vom Drechsler als massive, in der Mitte durchbohrte Scheiben geliefert wurden. Dagegen überspannte er mit Erfolg alte Zigarrenschachteln mit Darmsaiten und verfertigte Leiern daraus, auf denen die junge Götterschar fleißig klimperte. Der vierjährige Erwin fiel aber zuweilen aus der Rolle, indem er kleine Stecklein vom Boden aufhob und in den Mund steckte, um zu paffen; das ärgerte die reiferen Götter, und wenn er sich gar nicht belehren lassen wollte, dass ein griechischer Gott keine Zigarren raucht, wurde er für eine Weile vom Spiel ausgeschlossen. Nie aber wären uns Götter und Helden so vertraut geworden, hätten wir nicht auch ihre leiblichen Züge aus den vielen in des Vaters Studierzimmer liegenden Stichen und aus Mamas Gipsgüssen gekannt. Ich zeichnete sie unermüdlich nach und erweckte dadurch in meinen Eltern die lange genährte Hoffnung, dass ich ein hervorragendes Talent für bildende Kunst besäße, was sich dann erst in dem jüngeren Erwin verwirklichen sollte. Als wir älter wurden, erhielten wir die Voßsche Iliasübersetzung, in deren markigem, altertümlichem Deutsch sich die homerischen Gestalten noch schöner verkörperten. Häufig entspann sich nun im Rate der Götter ein Streit, wer denn eigentlich edler sei, Hektor oder Achilleus, wobei Mama und Josephine dazu neigten, dem tapferen und unglücklichen Verteidiger von Herd und Heimat den Preis zu geben. Dies erregte meinen stärksten Widerspruch, denn die höhere Natur des zarten und furchtbaren Griechenhelden war mir unwiderstehlich aufgegangen; sein frühes vorbestimmtes Sterbenmüssen erfüllte mich mit unsäglicher Tragik, in der schon der Schmerz um das kurze Dasein alles Schönen lag. Wogegen mir der Untergang Hektors nicht ungerechter schien, als dass der Mond verbleichen muss, wenn die Sonne aufgeht.
In einem Winkel des Obstgartens hatten wir aus herumliegenden Steinbrocken den großen Himmlischen einen Altar errichtet, und ich nahm dieses Spiel im stillen ernst wie alle unsere Spiele. Mama hatte in der Jugend viel von religiösen Zweifeln gelitten, bis die angeborene philosophische Richtung über den gleichfalls vorhandenen mystischen Hang den Sieg davontrug. Besonders aus Anlass der Konfirmation und der ersten Kommunion hatte sie schwere innere Kämpfe zu bestehen gehabt. Um unseren zarten Jahren ähnliche Qualen zu ersparen, war sie auf den Ausweg verfallen, uns die religiösen Begriffe gänzlich fernzuhalten, ebenso wie sie es mit dem Tode gemacht hatte. Aber die Empfindung eines Göttlichen liegt doch von Hause aus in der Seele, wenigstens lag sie in der meinigen. Also glaubte ich an die Götter Griechenlands. Ich schlich mich öfter in der Morgenstille zu unserem Steinaltar, um Opfer in Gestalt von Blumen oder Kornähren darzubringen und mich in die Betrachtung eines großen erhabenen Seins zu versenken. Natürlich nahm ich die junge Götterschar, deren Rollen wir selber spielten, nicht allzu ernsthaft, aber ihr Oberhaupt erweckte meine Ehrfurcht. Ein Weltenvater, Erschaffer und Erhalter alles Seins war mir schon von der Schichtung der Familie her eine natürliche und notwendige Vorstellung. Ihm galt meine Andacht. Meine persönlichen Angelegenheiten brachte ich nicht vor ihn, dafür stand er mir zu hoch. Diese trug ich ja nicht einmal zu meinem irdischen Vater, mit dem der Verkehr gleichfalls ein höherer, geistigerer war; sie gingen einzig und allein die Mutter an. Diese stillen Erbauungsstunden waren mein tiefstes Geheimnis, im übrigen aber war unser Götterwesen ruchbar geworden, und im Dorfe hatte sich das Gerücht verbreitet, hinter unserer Gartenmauer würde Abgötterei getrieben. Ein elfjähriges Bauernmädchen aus dem Nachbarhaus, das uns die Milch brachte, fragte mich eines Tages, ob wir denn nie etwas von unserem Herrn Christus gehört hätten. Ich verneinte voller Wißbegier. Nun lud sie uns ein, uns nachmittags auf dem Mäuerlein, das unsere Gärten trennte, einzufinden; sie werde uns einen Korb voll ihrer feinsten Birnen, Gaishirtlein genannt, mitbringen unter dem Beding, dass wir aufmerksam anhören wollten, was sie uns zu erzählen habe; unserer Josephine dürften wir nichts davon sagen, weil sie eine Heidin sei wie wir. Sehr erwartungsvoll kamen wir zur Stelle, wo unser kleiner Apostel uns nun voll rührenden Eifers, aber mit sehr unzulänglichen Kräften zunächst in die Schöpfungsgeschichte einführte. Das vertrug sich noch so ziemlich mit unserer griechischen Vorstellung. Als sie dann aber auch die Mysterien der Menschwerdung und der Welterlösung erklären wollte, versagte ihr geistliches Rüstzeug. Wir konnten uns Göttliches nur im höchsten Glanze denken. – Warum, warum ließ er sich das alles gefallen? – Geohrfeigt, gepeitscht! Ein Gott! Warum holte er keinen Blitz vom Himmel? Unmöglich! Nein, dagegen empörte sich unser Gefühl.
Der gläubige Amerikaner Ralph Waldo Trim stellt in seinem »Neubau des Lebens« die Frage auf, was wohl ein natürlicher, sonst wohlgebildeter Mensch, der, wenn solches möglich, ganz ohne Kenntnis religiöser Lehrsätze aufgewachsen wäre, bei seiner ersten Berührung mit dem Christentum empfände. Und er kommt zu dem Schluss, dass der gemarterte, geschändete Heiland ihm nur das tiefste Befremden erregen könnte. Wir waren damals in diesem schier nicht auszudenkenden Fall, und die arme Rike kam arg ins Gedränge, als sie uns das Unfassliche fasslich machen wollte. Sie schalt, wir schalten wieder, und es entspann sich eine richtige Disputation, die unser Vierjähriger durch die Frage unterbrach: Ja, weißt du denn nicht, dass wir die griechischen Götter sind? Da griff sie entsetzt nach ihrem leer gewordenen Korb und glitt die Mauer hinab, wir aber ließen uns von der anderen Seite erschöpft ins Gras fallen. Allein das Gehörte begann doch in mir zu wühlen,