Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Kraft floss nur so davon. Seine Beine wurden zittrig, gaben nach. Er brach zusammen. Hilflos lag er im Hexagramm, sah dabei zu, wie ein nebulöses Gespinst von ihm auf die Alte überging.
Sie schaute verzückt herab. »Das ist unfassbar. Eine so grell lodernde Essenz habe ich noch nie gekostet. Das bringt mir Jahre.« Ihre Augen weiteten sich in Gier. »Ich will alles!«
Alex bäumte sich ein letztes Mal auf, er versuchte es zumindest. Doch sein Körper gehorchte nicht länger. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass es kein Ecstasy-Flash war, der ihn gefangen hielt.
Das Gespinst zwischen ihm und der Alten zerfaserte.
»Was?« Sie schaute verblüfft umher.
Alex hätte vor Schreck beinahe aufgebrüllt. Mit einem Mal erwachten die Schatten in der Ecke des Raumes zum Leben. Eine Silhouette nahm Form an, eine Frau war plötzlich da. Einfach so. Neblige Schwärze lag über ihrem Gesicht, Dunkelheit zeichnete Konturen nach. Sonst konnte er keine Details ausmachen. Nur die Angst war da, manifestierte sich fast körperlich. Er zitterte.
Die Alte wiederum kreischte, wich zurück. »Nein!«
»Ts, ts, ts«, erklang eine verzerrte Stimme. Ihr Alter war nicht auszumachen, nur das Geschlecht kam durch. Eine Frau, eindeutig. »Ich habe doch klargemacht, dass er keinesfalls angegriffen werden darf.«
»Er lief mir zufällig über den Weg.«
»Ihr Schmarotzer glaubt immer wieder, die Regeln missachten zu können. Und dann auch noch lügen? Wie peinlich.« Die Unbekannte glitt auf Hutzelweib zu. Ihre Hand fuhr voran, durchstieß Hutzelweibs Brustkorb, riss das Herz heraus.
In einer Explosion verwandelte sich die Alte in eine Wolke aus Staub, das Herz zerfiel zu Asche. Gemächlich kam die Schattenfrau auf Alex zu. Neben ihm ging sie in die Knie. »Du weißt es noch nicht, aber mit deiner Ankunft wird sich alles verändern. Ich habe so lange darauf gewartet.« Langsam, fast zärtlich strich sie über Alex' rechte Wange. »Ich war von Anfang an dabei, seit über hundert Jahren. Heute beginnt es. Der Bannkreis wird gleich erlöschen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Sie kommt. Es ist wohl an der Zeit.«
Die Unbekannte erhob sich.
»Leider kann ich dir die Erinnerung an all das hier nicht lassen. Du bist noch im Erweckungsprozess, also wird eine kleine Erinnerungsalternierung keinen Schaden anrichten.« Sie seufzte. »Aber es wird schmerzhaft. Es ist immer schmerzhaft. Und das ist auch gut so.«
Schon malte sie Symbole in die Luft. Die Farbe ihrer Spur war seltsam diffus. Alex wollte den Gedanken greifen, doch er verwehte. Zusammen mit allem anderen, das seit dem Auftauchen der Schattenfrau geschehen waren.
Sein Körper verkrampfte.
Er schrie.
5. Castillo Maravilla
Jen betrat die Bibliothek.
»Was ist passiert?!«, fragte Kevin, der sie zuerst entdeckte. Sein dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar wirkte zerzaust. Ein Bartschatten lag auf dem Gesicht, die Augen schauten müde drein. Vermutlich hatte er die letzten Stunden damit verbracht, Stärke zu beweisen, wie er es immer tat.
Daneben sah Chris, sein Zwillingsbruder, von einem Folianten auf. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sah man von dem Tattoo ab, das Chris' rechtes Schulterblatt zierte und auf den Oberarm überging.
Clara kam mit einer Papyrusrolle aus dem rückwärtigen Bereich. Jeder ihrer Schritte strahlte eine Mischung aus Eleganz und Zielstrebigkeit aus. Die dunkle Haut, das seidig-schwarze Haar, die leuchtenden Augen: Es gab niemanden – ob Mann oder Frau –, der sich nicht nach Clara umdrehte; erfüllt von Liebe auf den ersten Blick, Bewunderung oder Neid.
Jen sank in einen der Lesesessel. Zum ersten Mal seit Stunden konnte sie durchatmen. Nachdem Mark gestorben war und sein Sigil sich neu manifestiert hatte, war sie nach London gehetzt, um den Erben zu retten. »Die Schattenkämpfer waren schneller.«
Kevin erbleichte. »Ist er …«
Sie schüttelte den Kopf. »Seltsame Sache. Als ich ankam, lag er bewusstlos in einem erloschenen Bannkreis. Scheinbar hatte ein Parasit ihn entführt.«
»Wieso war er dann noch am Leben?«, fragte Chris.
Anfangs hatte Jen Schwierigkeiten gehabt, beide zu unterscheiden. Mittlerweile konnte sie Gestik, Mimik und Tonlage dem jeweils richtigen Bruder zuordnen. Zudem war Chris' Gesicht einen Tick schmaler.
»Keine Ahnung.« Jen nahm ein Glas Wasser entgegen, das Clara ihr reichte. »Sie hat ihm Essenz abgezogen, er wurde bewusstlos. Was danach passiert ist, weiß er nicht. Aber scheinbar nichts Gutes für das Drecksvieh. Ich hab die Überreste gefunden. Momentan untersuchen die Heiler unseren Neuling. Dann folgt der Test.«
Letzteres führte der Rat bei jedem Neuerweckten durch. So wurde die Farbe von Aura und Spur erfasst und die Stärke der Basismagie.
In den kommenden Tagen würde sich frisches Wissen über Magie in Alexander Kent manifestieren. Zuvor musste sie ihn zu den Lichtkämpfern und der Geschichte aufklären. Das war oft ein gewaltiger Schock, veränderte es die Sicht auf die Welt doch außerordentlich. Meist wechselten sich Euphorie über die neu gewonnene Macht mit einem Gefühlstief ab. Denn Magie forderte stets auch einen Preis.
»Wie ist er so?«, fragte Chris. Er saß mit verschränkten Armen auf dem Rand des Tisches. Die Spitze seines Tattoos lugte auf dem rechten Oberarm unter dem T-Shirt hervor.
Die Zwillinge waren charakterlich recht verschieden. Kevin genoss die Beziehung mit Max, war monogam bis in die letzte Haarspitze. Chris schien nicht für etwas Festes gemacht zu sein, hatte ständig Affären. Dabei ging er jedoch respektvoll mit seinen Gespielinnen um, weshalb Jen ihm das nicht übel nahm. Wehe aber, wenn seine Männlichkeit infrage gestellt wurde. Dann kam das Alphatierchen zum Vorschein.
»Er ist ein arroganter kleiner Macho«, murmelte sie. »Hat sofort mit mir geflirtet und was davon gemurmelt, dass der Tag vielleicht doch noch ein glückliches Ende nimmt. Er kommt aus einem üblen Londoner Stadtteil.« Sie barg das Gesicht in den Händen. »Ich vermisse Mark. Und dann bekommt ausgerechnet so ein Macho-Arsch sein Sigil.« Sie schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an das höhnische Lachen ihres Vaters wallte auf. Sie biss die Zähne zusammen. Gestern war Vergangenheit. »Lernt ihn einfach selbst kennen.«
Schweigen breitete sich aus.
Kevin nahm auf der Lehne ihres Sessels Platz, legte kraftspendend seine Hand auf ihre Schulter. »Was genau ist bei eurem Einsatz passiert?«
Erst jetzt realisierte Jen, dass sie der Gruppe noch nichts erzählt hatte. Sie berichtete, was im Herrenhaus geschehen war.
»Wächter?«, hakte Clara nach. »Moment.« Sie verschwand zwischen den Regalen und kehrte mit einem wuchtigen Verzeichnis zurück. »Zeig mal das Symbol.«
Jen hob das Smartphone in die Höhe.
Nach kurzem Suchen konstatierte die Freundin: »Nichts. Wer die auch waren, ihre Gruppe steht hier nicht.«
Chris' Bizeps trat hervor, als er die Schriftsammlung entgegennahm und durchblätterte. »Der Rat muss die Wächtergruppe für so wichtig gehalten haben, dass er sie aus dem Verzeichnis gelöscht hat.«
»Oder genauer«, korrigierte Jen, »das, was sie bewacht haben.«
»Dieser Foliant«, sagte Kevin. »Den besitzen jetzt allerdings die seltsamen Kuttenträger mit dem Auge auf der Stirn. Das war wirklich eingeritzt? Die haben doch echt alle ’nen Knall.«
In Jen wuchs der Zorn bei dem Gedanken an die Mistkerle. Sie waren für Marks Tod verantwortlich. Dafür würde Jen sie zahlen lassen. Die Trauer wurde von der Wut unterdrückt – noch. Sie konnte das nicht ewig durchhalten, doch einstweilen musste sie stark sein. Jeder von ihnen musste das. »Der Rat?«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Clara. »Aber was es auch mit dem Folianten auf sich hat,