Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.
Zum anderen tickt die Uhr. Auch die Archivarin und die ihr Unterstellten sind Menschen. Ohne Nahrung und Wasser werden sie sterben. Wir müssen diese Barriere zügig überwinden.«
»Da stimme ich dir zu.« Johanna sog die klare reine Luft tief in ihre Lungen. »Doch zuerst müssen alle darüber informiert werden, was hier heute geschehen ist.«
»Du willst es ihnen sagen?«, fragte Tomoe ungläubig. »Alles?«
»Natürlich. Wenn die vergangenen Ereignisse eines gezeigt haben, dann, dass unsere Feindin jedes Mittel gegen uns einsetzt. Sie sät Zwietracht und Angst. Keine Geheimnisse mehr. Die Lichtkämpfer erfahren, was hier heute geschehen ist. Nur so können wir verhindern, dass sich etwas Derartiges wiederholt.«
Tomoe wirkte skeptisch. »Wenn du das für den richtigen Weg hältst, werde ich mich nicht dagegenstellen. Allerdings glaube ich eher, dass das für Unsicherheit und noch mehr Angst sorgen wird.«
Albert schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Johanna hat recht. Es wird das Vertrauen stärken, das die Lichtkämpfer in uns setzen.«
Bevor Tomoe darauf etwas erwidern konnte, hob Johanna die Hand. »Diese Diskussion sollten wir später fortsetzen. Es gibt genug zu tun. Die Teams müssen neu zugeteilt werden. Es gilt herauszufinden, wie der Wechselbalg hereinkam, und das Siegel um das Archiv muss schnell fallen. Zudem …«
Sie taumelte.
Im gleichen Augenblick spürten es auch Tomoe, Einstein und alle anderen versammelten Lichtkämpfer. Wie ein schlafender Drache, der sich brüllend erhob, wogte das Gefühl über sie alle hinweg. Schmerz, Übelkeit, noch mehr Schmerz. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild. Ein Mann, abgekämpft, verwundet, am Ende all seiner Kräfte.
»Max«, hauchte Albert.
»Oh nein.« Tomoe erbleichte.
Johanna konnte nur zitternd dastehen. Machtlos musste sie dem Verhängnis zusehen. Schließlich flüsterte sie: »Aurafeuer.«
21. Zu spät
Kurz zuvor
Kevin rannte durch die Gänge des Castillos. Wo Lichtkämpfer zu langsam beiseite wichen, sandte er leichte Kraftschläge aus, die sie wegrempelten. Er nahm nicht die Treppen, sprang stattdessen über die Brüstung und schwebte über den Abgrund, um ein Stockwerk tiefer wieder auf dem Boden aufzukommen. Lichtkämpfer, die seinem grimmigen Blick begegneten, warfen sich zur Seite. Vermutlich glaubten sie, er sei der Verräter. Manche zückten den Essenzstab, griffen ihn aber nicht an.
Max' Kontaktstein lag pulsierend in seiner Hand. Er lebte also noch. Es musste so sein. Der Gedanke brachte andere Bilder mit sich. Wochenlang hatte die Kreatur den Körper seines Freundes nachgebildet, ihn ersetzt. Er hatte das Drecksding geküsst, umarmt, sich nahe gefühlt und … Nein, darüber wollte, darüber durfte er nicht nachdenken.
Nun ging es nur um eines. Max' Rettung …
… Die erste Flamme züngelte über seine Aura. Das Sigil streckte seine Tentakel aus, bohrte sie in den hauchdünnen Schutz. Immer weiter trieb Max seine Magie an, ließ die Leuchtkugeln entflammen. Sie strahlten wie kleine Miniatursonnen, vertrieben die Dunkelheit mit ihrem Licht. Er schämte sich nicht der Tränen, die über seine Wangen rannen. Obgleich sein Körper geschunden war, er ein Martyrium über sich hatte ergehen lassen müssen und seine Freunde davon nicht einmal etwas wussten, hing er doch am Leben. Der Gedanke brachte erneut Wut mit sich. Er durfte ihr nicht nachgeben. Wut sorgte für Kampfeswillen.
Es ist vorbei.
Ab einem bestimmten Punkt ging es schnell. Die Flammen würden ihn innerhalb von Augenblicken verzehren. Der Schmerz würde nur Sekunden andauern. Nichts im Vergleich zu dem, was hinter ihm lag. Er dachte an seine Familie und Freunde. An Kevin, Jen und Chris, Chloe, Clara und Mark. Er dachte an die vielen Stunden im Wohlfühlflügel, wo er mit anderen gelacht hatte, neue Getränke ausprobiert oder magische Experimente durchgeführt hatte.
Es ist vorbei!
Er peitschte das Sigil an, trieb es über die Belastungsgrenze hinaus.
Eine weitere Flamme entstand. Noch eine. Das Aurafeuer begann. Und sein Schmerz …
… schwappte über Kevin hinweg. Er taumelte, brach in die Knie. Übelkeit, das grausame Gefühl des Verlustes brannte sich in seine Seele. Vor seinem geistigen Auge erschien Max. Er stand in einem kleinen Raum. An der Decke schwebten leuchtende Kugeln, die die Dunkelheit vertrieben. Er keuchte schockiert auf, als er den Zustand bemerkte, in dem sein Freund sich befand. Wunden, Verstümmelungen, Blut. Die Haare hingen strähnig herab, ein Vollbart spross auf seinem Gesicht.
Der Schock wurde von unbändiger Wut abgelöst. Auf den Wechselbalg, die Schattenfrau und sich selbst. Warum habe ich es nicht gesehen? Er sprang auf, kämpfte das Gefühl nieder und rannte weiter. Vor ihm tauchte ihr Zimmer auf.
Ein zusätzlicher Schock. Während er wochenlang mit dem Wechselbalg im Bett gelegen und geschlafen hatte, hatte Max nur eine Wand entfernt in Ketten einsam gelitten. Aus dem Zorn in seinem Inneren wurde purer Hass. Das Gefühl der Machtlosigkeit schürte die Flamme. Kevin betrat den Raum, den er nie wieder als sein Zuhause ansehen würde. Im nächsten Augenblick …
… explodierte die Wand.
Max stand einfach da. Sein Körper wurde von Flammen umlodert, sein Sigil schrie gepeinigt auf. Die Aura war nur mehr ein Flickenteppich, der zusammenbrach. Ein Zurück gab es nicht. Nicht ohne Essenz.
Kevin stand vor ihm.
Es war nur eine Sekunde, doch sie wurde zu einer Ewigkeit. Die Leuchtkugeln über ihm erloschen. Vor dem Fenster ihres Zimmers zog der Morgen herauf, die Nacht trat den Rückzug an. Die Flammen seiner Aura züngelten empor, verwandelten Max in eine lebende Fackel.
Sein Freund hielt den Essenzstab in der einen, Max' Kontaktstein in der anderen Hand. In seinem Gesicht las er die widersprüchlichsten Emotionen. Liebe. Hass. Machtlosigkeit. Kampfeswille.
Was auch immer im Castillo geschehen war, Kevin hatte begriffen, dass er – Max – hier war, ihn irgendwie gefunden hatte. Doch zu spät. Der Prozess lief ab, so wie er viele Male in der Geschichte der Lichtkämpfer abgelaufen war. Feuer, Tod, ein Erbe entstand.
Eine Träne löste sich, floss über Max' Wange.
Er schloss die Augen und …
… erzitterte. Kevins Starre fiel von ihm ab. Es blieben nur noch Sekunden, doch was konnte er in einem solchen Fall tun? Gab es eine Möglichkeit, ein Aurafeuer aufzuhalten.
»Kevin, hör mir jetzt genau zu«, erklang die Stimme Johannas über den Kontaktstein. »Es gibt eine Chance. Nur eine. Dabei setzt du aber dein eigenes Leben aufs Spiel.«
»Ich tue es!«
»Mach ganz genau, was ich dir sage. Worte und Symbole. Kein Raum für Fehler. Schnell.«
Die Rätin gab ihm exakte Anweisungen. Er malte das gedanklich übermittelte Symbol sorgfältig in die Luft. Es entstand in einer karmesinroten Spur. Das Aurafeuer von Max erreichte den Höhepunkt. Kevin brüllte die Worte hinaus, die Johanna ihm mitteilte. Natürlich hatte er längst begriffen, was er hier tat. Der Avakat-Stern wurde normalerweise nur von Unsterblichen verwendet und selbst diese gingen das Risiko nur selten ein. Er wusste von einem einzigen geschichtlich überlieferten Ereignis. Mehr gab es nicht. Eine Verbindung zwischen seinem und dem Sigil von Max entstand. Essenz floß hinüber, wurde von dem anderen Sigil aufgenommen, das sich schlagartig beruhigte. Da es keinen anderen aktiven Zauber mehr gab, wurde die Essenz auch nicht wieder verbraucht.
Kevin erschrak.
Das Sigil hatte sich zwar entspannt, aber die Aura heilte nicht. Ohne diese waren sie beide dem Untergang geweiht. Die Verbindung würde dafür sorgen, dass Max' Sigil sich an ihm labte und danach – wenn alles aufgebraucht war – doch wieder das Aurafeuer einleitete. Er geriet in Panik. Warum heilte die Aura nicht?!
Er