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Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik. Andreas SuchanekЧитать онлайн книгу.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek


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gab nur wenige Augenblicke in ihrem Leben, in denen sie es bereute, eine Lichtkämpferin zu sein. Die Magie war in ihr erwacht, das Sigil entflammt, seitdem stand sie auf der Seite des Lichts. Die verborgene Welt der Magie kennenzulernen, glich einer atemberaubenden Achterbahnfahrt; Schrecken und Euphorie lösten einander ab. Ständig. Sie fand neue Freunde, die zur Familie wurden. Das Castillo bezeichnete sie längst als Heimat.

      Doch stets war ihr bewusst, welch grauenvollen Preis sie dafür hatte zahlen müssen.

      Oder genauer: Welchen Preis ihr habt zahlen müssen.

      Sanft strich sie über Janas schlichten Grabstein. Wie oft hatten sie als Kinder gestritten. Typische Schwestern.

      Jen lächelte.

      Obgleich sie damals als einzige Überlebende das Familienvermögen geerbt hatte, hielt sie die Gräber schlicht. Es ging nicht um Pomp oder Größe, nein, die Erinnerung war bedeutsam.

      Ihre Hand wanderte weiter zu dem Stein ihrer Mutter. Die ersten Tränen kamen. Sie erinnerte sich an den liebevollen Blick, die weichen Gesichtszüge und die verträumten Augen. Das Haar ihrer Mutter hatte stets nach Blüten geduftet, ihr Atem nach Minze. Erst später war noch ein anderer Geruch hinzugekommen, der von den Minze-Bonbons nicht hatte übertüncht werden können. Doch wenigstens hatte sie es versucht.

      Im Gegensatz zu ihm.

      Als habe sie sich verbrannt, zuckte ihre Hand zurück, bevor sie seinen Grabstein berühren konnte.

      Ihr Blick erfasste die eingemeißelte Schrift.

      Was ich einst war, das bist nun du. Was ich nun bin, wirst du einst sein.

      »Dieser Spruch hätte dir gefallen, Dad, habe ich recht?« Sie wollte ausspucken. »In der Hölle sollst du schmoren.«

      Die Bilder kamen in einer Abfolge aus beißendem Schmerz. Das blaue Auge ihrer Mutter, untermalt durch die aufgeplatzte Lippe. Janas Schreie, dazu Regen und Donner. Wunde Fingerknöchel. Lachen.

      Jen spürte, wie ihre Konzentration nachließ.

      Das Sigil in ihrem Inneren reagierte auf den Schmerz. Violette Blitze züngelten, tanzten über Haut und Finger.

      Eine der obersten Regeln, die jeder Lichtkämpfer zu Beginn verinnerlichen musste, war gleichzeitig auch die simpelste: Wirke niemals Magie, wenn Emotionen im Spiel sind. Maximale Konzentration, so lautete das Credo. Andernfalls konnten Zauber entarten, die Folgen mochten katastrophal sein.

      Wer wusste das besser als sie.

      »Jen?!«, erklang Marks Stimme.

      Sie fluchte. »Hier!«

      Schnell wandte sie sich von den Gräbern ab und ging zurück auf das Gebäude zu, das einst ihr Zuhause gewesen war.

      »Dachte ich es mir doch, dass du hier bist«, verkündete er.

      »War das so offensichtlich?«

      Er zuckte mit den Schultern. »Für jemand, der dich kennt. Jeder hat so seine Eigenheiten, wenn er mies drauf ist. Max beispielsweise stopft sich seine Kopfhörer in die Ohren und hört stundenlang Musik. Finde ich deutlich gesünder, als ständig die Gräber seiner toten Eltern aufzusuchen.«

      Nur Mark konnte eine derartige Einschätzung mit einer solchen Leichtigkeit aussprechen und dabei nicht verletzen. Im Gegenteil. Sein sonniges Gemüt besserte sofort ihre Laune.

      »Du wolltest mich also aus meiner Trübsal reißen und einen Kaffee spendieren?«

      Er schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Wir haben einen neuen Auftrag.«

      »Es war einen Versuch wert.«

      Er lachte. »Aber danach ist ein Kaffee durchaus drin. Vielleicht erzählst du mir auf dem Weg, was eigentlich passiert ist.«

      Gemeinsam verließen sie den verwilderten Garten.

      Jen schenkte dem Haus keinen weiteren Blick. Es war nur ein leeres Gebäude, in dessen Räumen das Lachen und der Schmerz einer längst vergangenen Zeit widerhallten.

      Es ist vorbei.

      Sie ließ die Erinnerungen hinter sich, um mit Mark die Zukunft anzupacken. So tat sie es immer. Bis zum nächsten Mal.

      »Ich wünschte, es gäbe ein näheres Sprungportal«, grummelte sie.

      »Jennifer Danvers«, sagte Mark, ehe er schnell korrigierte, »Jen. Wir haben heute wohl mit der falschen Hand den ersten Zauber ausgeführt, hm?« Schalk blitzte in seinen Augen, Lachfalten entstanden. Das blonde Haar stand ungekämmt ab. Abgesehen von seiner Abneigung gegen einen Kamm, ließ er auch keine Magie an den Haarschopf.

      »Ach«, sie winkte ab.

      »Komm schon. Raus damit. Ich war jetzt lange genug geduldig. Schonzeit ist vorbei, Danvers.«

      Sie wusste, dass er hartnäckig bleiben würde. Seufzend sah sie hinaus über die grünen Hügel. Das Portal hatte sie in einem sicheren Haus in London abgesetzt. Von dort aus mussten sie allerdings die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, um ihrem Ziel näherzukommen. Alle anderen Portalausgänge lagen noch weiter entfernt. Jen nahm sich erneut vor, die Portalmagier zu bitten, das Netz der britischen Hauptstadt weitflächiger wachsen zu lassen. So saßen sie nun, nach einer langen Odyssee, in einer der typischen schwarzen Taxen und ruckelten über unebene Kieswege.

      »Es ist der Rat«, gab sie schließlich zu. »Ich habe eine Rüge erhalten.«

      Mark grinste noch breiter, wenn das überhaupt möglich war. »Kommt jetzt nicht überraschend.«

      »Hey!« Sie knuffte ihn in die Seite.

      »Ach, komm schon«, er warf ihr einen herausfordernden Blick zu. »Wie oft hast du die Regeln gebrochen? Der Rat musste doch reagieren. Sei bloß froh, dass Johanna eine schützende Hand über dich hält.«

      Jen gab nur ein verärgertes Grunzen von sich. Johanna von Orléans war die einzige Unsterbliche im Rat – eine von sechs –, die selbst hier und da mal eine Regel übertrat. Die Übrigen schauten meist hochnäsig auf sie herab oder bildeten sich etwas darauf ein, wer sie waren. Vermutlich lag es an dem langen Leben, dass sie jeden, der jünger als ein Jahrhundert war, als Kind ansahen.

      Man hatte ständig das Gefühl, ihren Ansprüchen sowieso nie gerecht werden zu können. Wie gut musste ein Mensch Zeit seines Lebens nur sein, um am Ende unsterblich und in den Rat berufen zu werden?

      »Du gehst zu viele Risiken ein, Jen.« Das Lachen auf Marks Gesicht verschwand.

      »Das haben die auch gesagt. Idioten.«

      »Na, danke.«

      Bevor sie das Gespräch fortführen konnten, erreichte das Taxi sein Ziel. Mark bezahlte den Fahrer aus der Einsatzkasse, während Jen ausstieg. Kies knirschte unter ihren Stiefeln, als sie ein paar Schritte machte, um das alte Herrenhaus näher zu betrachten. Es lag verborgen im Grünen, weit außerhalb der Stadt. Die Fassade wirkte gepflegt, Blumen bedeckten die Veranda, die Fenster mussten erst kürzlich gereinigt worden sein. »Sehr Downton-Abbey-like«, murmelte Jen.

      »Fang nicht wieder mit der alten Mottenkiste an«, sagte Mark, während sein Blick über die Fassade glitt.

      Gemeinsam näherten sie sich dem Eingang.

      »Du bist ein Banause«, erwiderte sie. »Irgendwann fessle ich dich vor den Fernseher, und du musst alle Staffeln anschauen.«

      »Das wäre Folter. Was würde der Rat nur dazu sagen?« Er grinste frech, worauf sie ihm erneut einen Stups in die Seite verpasste. Die Erwiderung erstarb ihr auf den Lippen. »Spürst du das?«

      Er nickte. Mit zielsicheren Bewegungen zeichnete Mark Symbole in die Luft. Sein Finger hinterließ eine Spur aus grünem Feuer. Die Spur eines jeden Magiers war anders, wenn er Symbole wob, jede war einzigartig.


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