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Die Entdeckung des Nordpols. Robert E. PearyЧитать онлайн книгу.

Die Entdeckung des Nordpols - Robert E.  Peary


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BASTA EINES SÜCHTIGEN

      Sein Basisdepot legte Peary diesmal circa vier Breitengrade nördlich von »Red Cliff House« und »Anniversary Lodge« an. Denn nachdem er mit der »Windward« Mitte August am Westufer des Smith-Sunds festgemacht und dort die ersten Monate tatenlos verbracht hatte, war er im Dezember mit seinem »Negerdiener«, seinem treuen Sancho Pansa, und vier Eskimos – »Jo« nannte sie in handfestem Rassismus seine »Huskys« – an der Ostseite der Ellesmere-Insel nach »Fort Conger« marschiert, in jenes Camp, das Adolphus Washington Greely 1881 angelegt hatte. Peary zerstörte es und benutzte die dabei gewonnenen Vorräte zur Bestückung des eigenen Lagers.

      Zum einen war er da vierhundertfünfzig Kilometer näher am Pol. Zum anderen hatte er die nervös machende Nachbarschaft Otto Sverdrups, des alten Gefährten Fridtjof Nansens, hinter sich gelassen, der mit der »Fram« im Smith-Sund so dicht bei Pearys Quartier ankerte, dass sich die beiden Teams eines Tages zufällig begegnet waren.

      Das Opfer, das Peary für den gewonnenen Abstand sowie den Vorsprung vor einem imaginären Rivalen bringen musste – tatsächlich wollte Sverdrup das Kartenmaterial der Arktis präzisieren –, war hoch: Er hatte sich auf dem Weg nach »Fort Conger« die Füße erfroren und war daher gezwungen, zur »Windward« zurückzukehren. Dort wurden ihm am 13. März 1899 alle Zehen amputiert. Zu Henson sagte er: »Na und – was sind schon ein paar Zehen als Preis dafür, zum Pol zu kommen?«

      Aber er kam nicht zum Pol. Weder in diesem Jahr noch im nächsten noch im übernächsten. Und als er es dann am 6. April 1902 energisch wieder versuchte, wieder mit Henson und wieder mit vier Eskimos, geriet er in ein solches Labyrinth von tiefen Waken und verkeilten Schollen, dass er das Ganze am 21. April bei 84° 17’ abbrach. Achtzig Meilen waren sie in sechzehn Tagen gegangen, einhundertfünfzig Kilometer – das heißt: nicht einmal zehn Kilometer pro Tag. Da gab sich der ausgebremste Berserker geschlagen und retirierte im August 1902 nach Hause. »Das Spiel ist aus«, erklärte er.

      Es war das Basta eines Süchtigen.

      Seinen Einsatz hatte er verloren ... Er war verstümmelt; hatte mit Aleqasina, der Mutter seines im Mai 1900 geborenen Sohnes Anaukak (1906 schenkte sie ihm noch den Sohn Kaie), die stets loyale »Jo« betrogen; sich mit Dr. Dedrick, seinem Schiffsarzt und Lebensretter, überworfen – und nicht einmal ein »Farthest North« erreicht: Verglichen mit Umberto Cagnis 86° 34’ waren seine 84° 17’, unter Brüdern, eine Stümperei.

      Dass man das durchaus anders sehen konnte, bewies der virulente Nationalismus in den USA. Er interpretierte Pearys sechsmaliges Anrennen gegen die Stellungen des Saturn als Ausdruck eines Pioniergeists, der alles, aber auch alles daransetzen würde, das Sternenbanner am Pol einzurammen.

      Folgerichtig wurde Peary daheim nicht etwa als Maniac von der traurigen Gestalt geschmäht, sondern als Ausbund von vaterländischem Kämpfertum auf den Schild gehoben: Ein 1899 gegründeter Peary Arctic Club trug ihm seine Hilfe an. Er wurde in absentia 1901 zum Kapitänleutnant und 1902 zum Fregattenkapitän der United States Navy ernannt. Und am 5. September 1903 beauftragte ihn sein Dienstherr ganz im Stil der Muscovy Society von 1607 kurz und bündig, den Pol zu erreichen: »Unser Nationalstolz ist an dieser Unternehmung beteiligt, und das Ministerium erwartet, dass Sie deren Zweck erfüllen und einer Armee, die auf leuchtende Großtaten zurückblicken kann, eine weitere Glanzleistung bescheren.«

      Damit war Pearys fixe Idee sanktioniert. Das Schiff, das er eiligst bauen ließ, erhielt den Namen »Roosevelt« (oder liebevoll »Teddy«). Und als es am 16. Juli 1905 von Manhattan auslief– mit an Bord waren auf der ersten Etappe seine Frau »Jo«, seine Tochter Marie und sein zweijähriger Sohn Robert Edwin jr. –, dürfte dem Explorer in den Ohren geklungen haben, was der Minister als Sprachrohr des Präsidenten der Vereinigten Staaten seiner Sieges-Order noch angefügt hatte: »Nothing short will suffice« ... »Weniger tut’s nicht.«

      Durch persönliche Exaltiertheit und kollektive Hybris hatte sich Peary vor seiner siebten Arktis-Fahrt in einem Dilemma verfangen, dessen Knoten er nur als Bezwinger des Nordpols entzweihauen konnte. »Nothing short will suffice.«

      Diese ideologische Disposition muss man kennen, um zu verstehen, was hernach passierte ...

      Peary fuhr – er hatte es längst »die amerikanische Route zum Pol« getauft – wieder durch den Smith-Sund, das Kane-Becken und den Kennedy-Kanal, vorbei an »Fort Conger« bis Kap Sheridan im Nordosten der Ellesmere-Insel. Doch weil das Eis stark nach Osten driftete, ging er, um direkt auf den Pol zuzuhalten, zuerst einhundertzehn Kilometer nach Westen zum Point Moss und brach dann am 6. März 1906 nordwärts auf.

      Es wird immer zu den offenen Fragen um Robert Edwin Peary gehören, warum er – der seit zwanzig Jahren den arktischen Ozean kannte – auf seinem Zug über das Eis keine Kajaks mit sich führte. So geschah es, dass er ständig gezwungen war, vor kleineren und größeren Wasserrinnen auszuharren, bis sie sich schlössen ... oder dass er Umwege um den »Hudson River« oder gar den »Styx« machen musste – mit einem Wort: dass er nicht wie geplant vorankam. Da ihm zudem ein Fehler bei der Berechnung seines Kurses unterlaufen war – er hatte einen falschen Winkel zwischen dem magnetischen und geografischen Pol zugrunde gelegt –, da überdies der Proviant dahinschwand und zu allem Übel das Wetter immer schlechter wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als das, was einmal ein Triumphzug werden sollte, am 21. April 1906 aufzugeben.

      Doch niemand weiß, wo er das tat.

      Am letzten Spalt hatte er den Heizer Ryan zurückgeschickt und damit allein Henson und sechs Eskimos bei sich. Die aber waren samt und sonders außerstande, mit einem Sextanten zu hantieren. Daher sahen sie lediglich ein Irgendwo, als Peary verkündete: »Wir haben 87° 06’ nördlicher Breite erreicht, und ich habe endlich den Rekord gebrochen.«

      Gestern hatte er noch 86° 30’ festgestellt – siebeneinhalb Kilometer unterhalb von Cagnis Marke. Und heute wollte er über eine Distanz von siebenundsechzig Kilometern ohne jeden Schlenker nach rechts oder links dahingeflogen sein ... über das Packeis, den Schnee und die Priele ... auf 87° 06’ ...

      Das Original seines Reisejournals ist verloren. Angaben seiner täglichen Marschleistung gibt es nicht. An exakten Daten seiner Positionen auf den Meridianen mangelt es. An verlässlichen Gewährsleuten fehlt es. Ergebnisse von Lotungen liegen nicht vor. Der Zeitpunkt seiner Heimkehr zum Schiff ist unbekannt. Daher blieb jeder Versuch, sein »Farthest North« zu verifizieren, von vornherein Spekulation.

      »Nothing less will suffice.« Mochte Peary auch befürchtet haben, als Versager empfangen zu werden, dann hatte er die Rechnung ohne den Peary Arctic Club, ohne die National Geographic Society und ohne den Präsidenten gemacht. Sie alle ließen den amerikanischen Champion von 87° 06’ hochleben und verliehen ihm Ehrentitel und -medaillen. Und je länger bei den Festakten, Festmahlen und Festreden die Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren, desto mehr lichtete sich das Clair-obscur um seine Person, bis er als der immer tatendurstige Überwinder dastand und der SUNDAY HERALD am 16. Dezember 1906 mit der Schlagzeile aufmachen konnte: »Peary versichert, der Pol ist bei Anwendung seiner Methoden erreichbar.«

      Und hatte er gerade noch die Beendigung seiner »arktischen Tätigkeit« erwogen, so begann das jetzt alles von neuem: das Geldgeber-Suchen, Bemannung-Ernennen, »Roosevelt«-Rüsten – da platzte am 1. Oktober 1907 die Nachricht herein, dass Dr. Frederick Albert Cook, Pearys alter Arzt und Weggenosse, auf dem Marsch zum Nordpol sei.

      DAS WERK, »FÜR DAS MICH GOTT DER ALLMÄCHTIGE AUSERWÄHLT HAT«

      Peary war wie gelähmt. Über Nacht musste er befürchten, dass ein Mitbewerber um das Endziel ihm, dessen Name – beinahe – »überall in Kreisen der Kultur und Bildung als Sesam-öffne-dich« wirkte, den Rang ablaufen könnte. Im Nu stünde er im Schatten Dr. Cooks, sein Image würde verblassen und demnächst vergessen sein, zwanzig Jahre Schinderei wären für nichts darangegeben, sein Leben verpfuscht – ja, vom Schöpfer selbst um den Erfolg gebracht. Denn hatte Peary nicht seinem Gönner im White House offenbart: »Ich glaube daran, dass ich diesmal siegen werde; wie ich daran glaube, dass dieses das Werk ist, für das mich Gott der Allmächtige auserwählt hat«?


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