Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.
Welt gesagt, das bei meinen Eltern das Vorurteil gegen Bergotte überwinden konnte; die schönsten Betrachtungen und alle Lobreden über ihn wären dagegen nicht aufgekommen.
Augenblicklich änderte die Situation das Gesicht. »Ah? ... Er hat gesagt, daß er dich intelligent finde?« sagte meine Mutter. »Das freut mich, denn es ist doch ein Mann von Talent!«
»Wie? Das hat er gesagt?« meinte der Vater. »Ich leugne durchaus nicht seine literarischen Meriten, die allgemein anerkannt werden, es ist nur ärgerlich, daß sein Leben so wenig einwandfrei ist, wie der alte Norpois andeutete.« Der Vater bemerkte nicht, daß gegen die Übermacht der Zauberworte, die ich ausgesprochen, Bergottes Sittenverderbnis nicht länger ankämpfen konnte als die Falschheit seines Urteils. »Ach, lieber Freund,« unterbrach die Mutter. »Nichts beweist, daß es wahr ist. Man spricht so viel. Herr von Norpois ist sehr nett, aber nicht gerade immer sehr wohlwollend, besonders gegen Leute, die nicht von seiner Partei sind.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte mein Vater.
»Nun und dann wird dem Bergotte viel vergeben werden, weil er meinen kleinen Burschen nett gefunden hat«, schloß die Mutter, streichelte mit ihren Fingern mein Haar und sah mich mit einem langen verträumten Blick an.
Meine Mutter hatte übrigens diesen Wahrspruch Bergottes nicht abgewartet, um mir zu sagen, ich könne Gilberte einladen, wenn ich Freunde zu Besuch habe. Das wagte ich aber nicht, und zwar aus zweierlei Gründen. Erstens gab es bei Gilberte nur Tee. Zu Hause hielt aber die Mutter darauf, daß neben dem Tee auch Schokolade gereicht wurde. Ich fürchtete, Gilberte könne das gewöhnlich finden und uns daraufhin sehr verachten. Der zweite Grund war eine Schwierigkeit der Etikette, die ich nicht beheben konnte. Wenn ich zu Frau Swann kam, fragte sie: »Wie geht es Ihrer Frau Mutter?«
Ich hatte meiner Mutter einige dahingehende Eröffnungen gemacht, um zu erfahren, ob sie sich auch so verhalten werde, wenn Gilberte käme; dieser Punkt schien mir bedeutsamer als die Monseigneur-Frage am Hofe Ludwigs XIV. Aber davon wollte Mama nichts wissen.
»Ich kenne doch Frau Swann gar nicht.«
»Sie kennt dich doch auch nicht.«
»Mag sein, aber wir sind nicht gezwungen, in allem genau dasselbe zu tun. Ich werde Gilberte andere Freundlichkeiten erweisen, die Frau Swann für dich nicht haben wird.«
Aber ich ließ mich nicht überzeugen und zog es vor, Gilberte nicht einzuladen.
Als ich meine Eltern verlassen hatte, mich umziehen wollte und meine Tasche leerte, fand ich mit einmal den Briefumschlag, den mir Swanns Butler überreicht hatte, bevor er mich in den Salon führte. Ich öffnete ihn: innen war eine Karte, auf der man mir die Dame bezeichnete, der ich beim Zutischegehen den Arm reichen sollte.
Ungefähr um diese Zeit brachte Bloch eine Umwälzung in meine Auffassung der Welt und eröffnete mir neue Glücksmöglichkeiten (die sich allerdings später in Leidensmöglichkeiten verwandeln sollten), er versicherte mir, im Gegensatz zu der Meinung, die ich zur Zeit meiner Spaziergänge nach Méséglise zu hatte, die Frauen seien immer durchaus damit einverstanden, die Liebe zu machen. Er vervollständigte den Dienst, den er mir erwies, durch einen zweiten, den ich erst viel später würdigen sollte; er führte mich zum ersten Male in ein Freudenhaus. Wohl hatte er mir gesagt, es gebe viele hübsche Frauen, die man besitzen könne; aber ich gab diesen Frauen ein unbestimmtes Aussehen, das ich mit Hilfe der Freudenhäuser durch besondere Gesichter ersetzen wollte. So hatte ich Bloch gegenüber – für seine »frohe Botschaft«, Glück und Besitz der Schönheit seien keine unerreichbaren Dinge, unsere Bemühung, für immer auf sie zu verzichten, sei unnötig – eine Verpflichtung ähnlicher Art, wie gegen einen optimistischen Arzt oder Philosophen, der uns langes Leben in dieser Welt und die Sicherheit, uns beim Übergang in eine andre nicht völlig von ihr zu trennen, erhoffen läßt; die Rendezvoushäuser, die ich einige Jahre später besuchte, lieferten mir Musterproben des Glücks und erlaubten mir, der Frauenschönheit ein Element hinzuzufügen, das wir nicht erfinden können, das mehr ist als ein Inbegriff früherer Schönheiten, das wahrhaft göttliche Geschenk, das einzige, das wir uns nicht selbst zu schenken vermögen, vor dem alle logischen Schöpfungen unserer Intelligenz zunichte werden, und das wir von der Wirklichkeit allein erbitten können: den Reiz des Individuellen, – und damit verdienten sie es, von mir andern Wohltätern neueren Ursprungs, ähnlich ersprießlichen, an die Seite gestellt zu werden – Dingen, vor deren Kenntnis wir uns das Verführerische an Mantegna, Wagner, Siena nach andern Malern, Musikern und Städten ohne die rechte Inbrunst vorstellen, nämlich den illustrierten Geschichten der Malerei, den Sinfoniekonzerten und den Schriften über die »Kunststätten«. Allein das Haus, in das Bloch mich führte und in das er selbst schon längst nicht mehr ging, war von zu niederem Rang, das Personal zu mittelmäßig und zu selten erneuert, als daß ich dort alte Wißbegierde befriedigen oder neue gewinnen konnte. Die Vorsteherin des Hauses kannte keine der Frauen, nach denen man sie fragte, und schlug immer solche vor, von denen man nichts hätte wissen wollen. Eine rühmte sie mir besonders, eine, von der sie mit verheißungsvollem Lächeln (als wäre das eine Seltenheit und ein besonderer Leckerbissen) sagte: »Es ist eine Jüdin! Sagt Ihnen das nichts?« (Das war wohl der Grund, weshalb sie sie Rahel nannte.) Und mit albernem, künstlichem Pathos, von dem sie hoffte, es wirke ansteckend, und das in einem beinah wollüstigen Geröchel endete, rief sie: »Kleiner, denken Sie doch, eine Jüdin, ich stelle mir vor, das muß toll sein! Hach!« Diese Rahel, die ich zu sehen bekam, ohne daß sie mich sah, war brünett und nicht hübsch, sah aber klug aus. Nicht ohne mit der Zungenspitze über die Lippen zu fahren, lächelte sie unverschämt den Kunden zu, die man ihr vorstellte und die, wie ich hörte, ein Gespräch mit ihr anknüpften. Ihr kleines, schmales Gesicht war von schwarzem Kraushaar umgeben, das unordentlich aussah, als wäre es auf einer Zeichnung mit chinesischer Tusche nur durch Schraffieren angedeutet. Jedesmal versprach ich der Vorsteherin, die sie mir mit besonderer Beharrlichkeit empfahl und dabei ihre große Intelligenz, und Bildung rühmte, ich werde nicht verfehlen, eines Tages eigens zu kommen, um die Bekanntschaft der Rahel zu machen, der ich zitierend den Beinamen »Rahel, die von des Herrn« gab. Am ersten Abend aber hatte ich sie im Weggehen zu der Patronin sagen hören:
»Abgemacht, ich bin morgen frei, wenn sie jemanden haben, vergessen Sie nicht, mich holen zu lassen.«
Diese Worte hatten mich verhindert, in ihr eine Individualität zu sehen, sie ordnete sich damit für mich unmittelbar in eine allgemeine Kategorie von Frauen ein, deren gemeinsame Gewohnheit es ist, abends herzukommen, um zu sehen, ob es nicht ein Goldstück oder zwei zu verdienen gebe. Sie variierte ihre Worte nur so:
»Wenn Sie mich brauchen« oder »wenn Sie jemanden brauchen«.
Die Patronin, die die Oper von Halévy nicht kannte, wußte nicht, woher ich mein »Rahel, die von des Herrn« hatte. Aber man braucht einen Scherz nicht weniger komisch zu finden, weil man ihn nicht versteht, und jedesmal sagte sie mir wieder unter herzlichem Lachen:
»Also heut abend soll ich Sie noch nicht zusammentun mit »Rahel, die von des Herrn?« Wie sagen Sie das: Rahel, die von des Herrn! Das haben Sie fein rausgebracht. Ich werde euch beide verloben. Sie werden sehen, es wird Sie nicht gereuen.«
Einmal war ich nahe daran, mich zu entscheiden, aber da war sie gerade »unter der Presse«, ein anderes Mal unter den Händen des »Friseurs«, eines alten Herrn, der nichts weiter mit den Frauen machte, als ihnen Öl über das offene Haar zu gießen und dann sie zu kämmen. Und ich wurde es müde zu warten, obschon einige sehr bescheidene Besucherinnen, angeblich Arbeiterinnen, aber immer ohne Arbeit, kamen, mir Lindenblütentee machten und eine lange Unterhaltung mit mir anfingen, der – trotz des Ernstes der besprochenen Themen – die teilweise oder völlige Nacktheit meiner Unterrednerinnen eine schmackhafte Schlichtheit gab. Ich stellte dann bald meine Besuche in diesem Hause ein, denn in dem Wunsche der Frau, die es hielt, mein Wohlwollen zu beweisen, hatte ich ihr einige Möbel, die ich von meiner Tante Léonie geerbt hatte und die sie brauchen konnte, gegeben, namentlich ein großes Kanapee. Diese Möbel sah ich zu Hause nie, aus Platzmangel hatten sie meine Eltern in einem Speicher untergestellt. Als ich sie nun in dem Hause wiederfand, wo sie von diesen Frauen benutzt wurden, erschienen mir alle Tugenden, deren Gegenwart man im Zimmer meiner Tante in Combray fühlte, gemartert von der qualvollen Berührung, der