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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust


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bis ich eines Morgens auf der Anschlagsäule die Matineen der Neujahrswoche studierte und zum erstenmal – als zweiten Teil einer Vorstellung nach einem vermutlich unwesentlichen Einakter, dessen Titel mir dunkel blieb, weil er auf eine mir ganz unbekannte Handlung hindeutete, – zwei Akte Phèdre mit Frau Berma entdeckte und an den folgenden Matineen Le Demi-Monde und Les Caprices de Marianne, Titel, die wie Phèdre für mich durchsichtig waren, ganz von Klarheit erfüllt, – so gut kannte ich die Werke –, bis auf den Grund erleuchtet vom Lächeln der Kunst. Es schien mir Frau Berma einen neuen Adel zu geben, als ich in den Zeitungen las, sie selbst habe sich entschlossen, in einigen ihrer früheren Schöpfungen vor das Publikum zu treten. Die Künstlerin wußte, daß gewisse Rollen ein Interesse haben, das ihr erstes Erscheinen oder den Erfolg ihrer Wiederaufnahme überdauert; sie betrachtete deren Darstellung als Vorführung von Museumsstücken, Modellen für die Generation, die sie darin bewundert, und die, welche sie noch nicht darin gesehen hatte. Und wenn sie nur mitten unter Stücken, die nur dazu bestimmt waren, einen Abend lang die Zeit zu vertreiben, Phèdre anzeigte, ein Titel, nicht länger als der der andern und in den gleichen Lettern gedruckt, gab sie damit etwa dasselbe zu verstehen wie eine Hausfrau, die uns, wenn man zu Tische geht, den Gästen vorstellt und mitten unter den Namen von Eingeladenen, die nur Eingeladene sind, im gleichen Tonfall, mit dem sie die anderen nennt, sagt: Herr Anatole France.

      Der Arzt, der mich behandelte – der, welcher mir das Reisen ganz verboten hatte – riet meinen Eltern davon ab, mich ins Theater gehen zu lassen; ich würde krank davon werden, vielleicht für lange Zeit, und schließlich und endlich mehr Leiden als Vergnügen davon haben. Solch eine Besorgnis hätte mich gehemmt, wenn das, was ich von der Aufführung erwartete, nur ein Vergnügen gewesen wäre, das durch spätere Leiden einfach im Ausgleich aufgehoben werden kann. Aber – gerade wie von der Reise nach Balbec oder der nach Venedig, die ich so sehr ersehnte – wollte ich von der Matinee etwas ganz anderes als ein Vergnügen: Wahrheiten wollte ich, die einer Welt angehörten, wirklicher als die, in der ich lebte, und die, einmal erworben, mir nicht mehr von unbedeutenden, ob auch für meinen Körper schmerzhaften Zufällen meines müßigen Daseins entrissen werden konnten. Mindestens erschien mir das bevorstehende Vergnügen bei der Aufführung als im Erfassen dieser Wahrheit vielleicht unumgängliche Form, und so konnte ich meine Wünsche darauf beschränken, die vorhergesagten Unpäßlichkeiten sollten erst nach Schluß der Vorstellung einsetzen, damit mein Eindruck durch sie nicht beeinträchtigt oder verfälscht würde. Flehentlich bat ich meine Eltern, die es seit dem Besuche des Arztes nicht mehr wollten, mich zu Phèdre gehen zu lassen. Beständig sagte ich mir die Rede auf: ›Man sagt, Euch wird von uns ein rascher Abschied trennen‹ und suchte dabei nach allen Betonungen, die man hineinlegen konnte, um besser das Unerwartete der einen zu ermessen, welche die Berma finden werde. Verborgen wie das Allerheiligste vom verhüllenden Vorhang, hinter dem ich ihr jeden Augenblick einen neuen Aspekt verlieh – im Anschluß an Bergottes Worte, in der von Gilberte entdeckten Broschüre, die mir in den Sinn kamen: ›Plastischer Adel, christliches Bußhemd, jansenistische Blässe, Prinzessin von Trözen und von Cleve, mykenisches Drama, delphisches Symbol, Sonnenmythos‹ –, so thronte die göttliche Schönheit, welche das Spiel der Berma mir offenbaren sollte, Tag und Nacht über beständig flammendem Altar in der Tiefe meines Geistes, – meines Geistes, der je nach der Entscheidung meiner strengen und leichtfertigen Eltern für immer die Vollkommenheiten der Göttin, die sich auf derselben Stätte enthüllt, wo ihre unsichtbare Gestalt sich erhob, umschließen sollte oder nicht. Und so kämpfte ich, die Augen auf das unfaßbare Bild geheftet, von morgens bis abends gegen die Widerstände, die meine Familie mir entgegensetzte. Allein als diese fielen, als meine Mutter – obwohl die Matinee gerade an dem Tage stattfand, an dem mein Vater Herrn von Norpois nach der Kommissionssitzung zum Essen mitbringen wollte – mir sagte: »Höre, wir wollen dich nicht betrüben; wenn du glaubst, es wird dir solches Vergnügen machen, dann mußt du hingehen«, als dieser bisher verbotene Theatertag nur noch von mir abhing, jetzt zum erstenmal, da ich mich nicht mehr mit der Aufhebung seiner Unmöglichkeit zu befassen brauchte, fragte ich mich, ob es denn wünschenswert sei, ob nicht andere Gründe als das Verbot der Eltern dafür sprächen, daß ich verzichte. Hatte ich zuvor die Grausamkeit der Eltern verabscheut, so machte ihre Zustimmung sie mir nun so teuer, daß der Gedanke, sie zu bekümmern, mir selber Kummer bereitete, durch den hindurch mir als Sinn des Lebens nicht mehr die Wahrheit, sondern die Liebe erschien und das Leben nur noch gut oder schlecht, je nachdem meine Eltern glücklich oder unglücklich sein würden. »Lieber möchte ich nicht hingehen, wenn es euch betrübt«, sagte ich meiner Mutter; sie hingegen bemühte sich, mich von dem Hintergedanken, sie könne sich darum betrüben, zu befreien, der, meinte sie, nur mein Vergnügen an Phèdre stören würde, und um dieses Vergnügens willen seien doch sie und der Vater von ihrem Verbot zurückgekommen. Da aber kam mir diese Art Verpflichtung, Vergnügen zu empfinden, recht schwer vor. Und dann: würde ich, wenn ich krank nach Hause käme, schnell genug genesen, um nach den Ferien in die Champs-Élysées zu gehen, sobald Gilberte wieder hinkäme? Allen diesen Gründen stellte ich zum Entscheidungskampf die hinter ihrem Schleier unsichtbare Idee der Vollkommenheit der Berma entgegen. In die eine Wagschale legte ich: »Fühlen, daß Mama traurig ist, riskieren, nicht in die Champs-Élysées gehen zu können, in die andere »jansenistische Blässe, Sonnenmythos«, aber diese Worte verdunkelten sich schließlich selbst vor meinem Geist, sagten mir nichts mehr, verloren alles Gewicht; nach und nach wurde das Zögern zu schmerzlich: hätte ich jetzt für das Theater entschieden, so wäre es nur geschehen, um diesem Zögern ein Ende zu machen und es ein für allemal los zu sein. Nur noch, um meine Leiden abzukürzen, nicht in der Hoffnung mehr auf geistigen Gewinn, noch in der Hingabe an den Reiz des Vollkommenen hätte ich mich zu der Göttin geleiten lassen, die nun nicht mehr die weise Göttin war, sondern die unerbittliche Gottheit ohne Antlitz und Namen, die ihr heimlich hinter dem Schleier untergeschoben worden. Da wurde plötzlich alles anders. Mein Verlangen, die Berma zu hören, erhielt von neuem einen Schlag mit der Peitsche, der mir erlaubte, in freudiger Ungeduld die Matinee zu erwarten: als ich nämlich vor der Anschlagsäule meine tägliche, seit kurzem so qualvolle Stylitenstation machte, sah ich, noch ganz feucht, die detaillierte Anzeige der Phèdre, die man gerade zum erstenmal aufgeklebt hatte (und auf der, die Wahrheit zu sagen, die übrigen Einzelheiten keinen neuen entscheidenden Reiz auf mich ausübten). Aber sie gab dem einen der Ziele, zwischen denen meine Unentschiedenheit schwankte, eine konkretere Form, die – da die Anzeige nicht das Datum des Tages trug, an dem ich sie las, sondern dessen, an dem die Aufführung stattfinden sollte und noch dazu die Stunde des Beginns – etwas Näherrückendes, auf dem Wege der Verwirklichung Begriffenes hatte, so daß ich freudig vor der Säule hüpfte bei dem Gedanken, ich werde an diesem Tage, genau zu dieser Stunde auf meinem Platze sitzen und bereit sein, die Berma zu hören; und aus Furcht, meine Eltern könnten nicht mehr Zeit haben, für die Großmutter und mich zwei gute Plätze zu beschaffen, war ich mit einem Satz wieder zu Hause, gehetzt von den neuen Zauberworten, die in meinem Geist ›jansenistische Blässe‹ und ›Sonnenmythos‹ ersetzt hatten, den Worten: ›die Damen müssen im Parkett die Hüte abnehmen, die Saaltüren werden um zwei Uhr geschlossen‹.

      Ach, diese erste Matinee war eine große Enttäuschung. Mein Vater schlug vor, die Großmutter und mich auf seinem Wege zur Kommission vor dem Theater abzusetzen. Vorm Weggehen sagte er zu meiner Mutter: »Sieh zu, daß wir etwas Gutes zum Essen haben; du weißt doch, ich soll Norpois mitbringen.« Die Mutter hatte es nicht vergessen. Und schon seit gestern war Françoise glücklich, sich der Kochkunst hingeben zu können, für die sie sicherlich Begabung besaß, und noch besonders feuerte sie die Ankündigung eines neuen Tischgastes an; sie wußte, sie sollte nach Methoden, die nur ihr eigen waren, den Boeuf à la gelée komponieren, und lebte ganz in der Glut des Schaffens; da sie besondern Wert auf die Qualität des Materials legte, das notwendig zur Herstellung ihres Werkes gehörte, ging sie selbst in die Hallen und ließ sich die schönsten Stücke Rumsteak, Rindsbug und Kalbsfuß geben, dem Michelangelo ähnlich, der acht Monate in den Bergen von Carrara verbrachte, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Denkmal Julius' II. auszuwählen. Bei ihrem Hin und Her legte Françoise sich derart ins Zeug, daß Mama, als sie das erhitzte Gesicht unserer alten Dienerin sah, fürchtete, sie könne krank werden von Überanstrengung wie der Schöpfer der Mediceergräber in den Steinbrüchen von Pietrasanta. Schon am Vorabend hatte sie den rosa Marmor dessen, was sie Nev-Yorkschinken nannte, zum Bäcker geschickt,


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