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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust


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Jetzt vergegenwärtigte ich mir jedesmal, wenn ich an Gilberte zu schreiben hatte, die eingebildete Veränderung, die von nun an durch Schweigen, das sie über diesen Gegenstand in ihren Antworten bewahrte, unausgesprochen anerkannt wurde und zwischen uns bestehen bleiben sollte. Weiterhin hörte Gilberte einmal auf, sich mit dem bloßen Übergehen der Tatsache zu begnügen. Sie nahm selbst meinen Gesichtspunkt an, und wie in offiziellen Toasten der Chef des Staates, welcher empfangen wird, in seiner Erwiderung ungefähr dieselben Ausdrücke wiederaufnimmt, die der empfangende Staatschef gebraucht hat, verabsäumte Gilberte nicht, wenn ich schrieb: »Das Leben hat uns zu trennen vermocht, die Erinnerung an die Zeit, da wir einander kannten, wird dauern«, jedesmal zu antworten: »Das Leben hat uns zu trennen vermocht, es wird uns die guten Stunden, die uns immer teuer bleiben werden, nicht in Vergessen zu bringen vermögen.« (Wir wären beide in Verlegenheit gekommen, hätten wir angeben sollen, warum »das Leben« uns getrennt habe und welche Veränderung vorgegangen sei.) Ich litt nicht mehr allzusehr. Und doch, eines Tages, als ich ihr in einem Brief mitteilte, ich habe den Tod unserer alten Bonbonverkäuferin aus den Champs-Élysées erfahren, und die Worte schrieb: »Ich habe mir gedacht, daß Ihnen das nahegegangen ist, in mir hat es so manche Erinnerung aufgerührt«, – konnte ich mich nicht enthalten, in Tränen auszubrechen: ich merkte, daß ich in der Form der Vergangenheit und als handle es sich um einen schon fast vergessenen Toten, von dieser Liebe sprach, an die ich doch immer noch wie an etwas Lebendes oder wenigstens Wiederauflebenkönnendes gedacht hatte. Nichts Zarteres kann man sich vorstellen als diesen Briefwechsel zwischen Freunden, die sich nicht mehr sehen wollten. Gilbertes Briefe waren so feinfühlig wie die, welche ich an Gleichgültige schrieb, und auch voll offenkundiger Zuneigungsbeweise. (Und die von ihr zu empfangen, war süß für mich.)

      Immer leichter wurde mir nach und nach die Weigerung, sie zu sehen. Und wie sie mir immer weniger teuer wurde, so hatten meine schmerzlichen Erinnerungen auch nicht mehr Kraft genug, in beständiger Wiederkehr die Entstehung des freudigen Gefühls zu zerstören, mit dem ich an Florenz, an Venedig dachte. In solchen Momenten tat es mir leid, auf den Eintritt in die Diplomatie verzichtet und mich auf ein seßhaftes Dasein eingelassen zu haben, um mich nicht von einem jungen Mädchen zu entfernen, das ich nicht mehr sehen würde und schon fast vergessen hatte. Man baut sein Leben auf für eine Person, und. wenn man soweit ist, sie darin aufnehmen zu können, kommt diese Person nicht, ist sie tot für uns, und man lebt als Gefangener in dem, was nur für sie bestimmt war. Schien Venedig meinen Eltern recht entlegen und fiebergefährlich für mich, so war es immerhin leicht, sich mühelos in Balbec niederzulassen. Aber dazu hätte ich Paris verlassen und auf die wenn auch noch so seltnen Besuche verzichten müssen, bei denen Frau Swann bisweilen zu mir von ihrer Tochter sprach. Nebenbei bemerkt, fing ich schon an, bei diesen Besuchen an dem und jenem meine Freude zu haben, was zu Gilberte in keiner Beziehung stand.

      Als der nahende Frühling wieder Kälte mitbrachte, zur Zeit der Eisheiligen und österlichen Unwetter, fand Frau Swann, daß man zu Hause erfriere; und oft sah ich sie in Pelzen empfangen, ihre Hände und Schultern fröstelnd unter dem weißen schimmernden Hermelinteppich eines flachen Riesenmuffs und eines Kragens verschwinden; die hatte sie vom Spaziergange anbehalten, sie waren die letzten Stücke des Winterschnees, welche die andern überdauerten und weder am Feuer noch unter der vorgeschrittenen Jahreszeit hinschmolzen. Das wahre Wesen dieser eisigen und doch schon blühenden Wochen leuchtete mir in dem Salon, in den ich nun bald nicht mehr gehen sollte, durch anderes berauschenderes Weiß ein, zum Beispiel das der »Schneebälle«, die auf dem Gipfel ihrer hohen nackten Stiele – nackt wie die linearen Stauden der Präraffaeliten – ihre parzellierten, doch einheitlichen Kugeln trugen, weiß wie Verkündigungsengel, von Zitronengeruch umwittert. Die Schloßherrin von Tansonville wußte, daß auch ein eisiger April nicht ganz ohne Blumen ist, daß Winter, Frühling und Sommer nicht durch hermetische Scheidewände voneinander getrennt sind, wie der Großstädter zu glauben geneigt ist, der, bis die ersten warmen Tage kommen, wähnt, die Welt enthalte nichts als Häuser, welche nackt im Regen stehen. Daß Frau Swann sich mit den Sendungen ihres Gärtners aus Combray begnügte und nicht durch Vermittlung ihrer ständigen Blumenhändlerin die Lücken mit Anleihen bei der mittelländischen Frühreife ausfüllte, will ich durchaus nicht behaupten, und darüber machte ich mir auch keine Sorgen. Um Heimweh nach der Natur zu bekommen, genügte es, daß neben dem Firnenschnee von Frau Swanns Muff die Schneebälle (welche vielleicht der Dame des Hauses nur dazu dienten, auf Bergottes Rat mit ihren Möbeln und ihrer Toilette eine »Symphonie in Weiß-Dur« zu machen) mich gemahnten, der Karfreitagszauber stelle ein natürliches Wunder dar, dem man alljährlich beiwohnen könnte, wenn man nur weiser wäre; sie machten zusammen mit dem herb berauschenden Duft von Blumenkronen anderer Arten, deren Namen ich nicht wußte (und hatte im Spazierengehn bei Combray dennoch oft vor ihnen eingehalten), aus dem Salon von Frau Swann ein ebenso jungfräuliches blätterloses, von authentischen Gerüchen durchzogenes Blütenreich, wie es der kleine Hügelweg von Tansonville war.

      Aber noch kam diese Erinnerung zu früh. Noch war Gefahr, daß sie den kleinen Überrest meiner Liebe zu Gilberte nähre. Und obwohl ich während meiner Besuche bei Frau Swann gar nicht mehr litt, machte ich doch immer wieder längere Pausen dazwischen und versuchte, möglichst selten zu ihr zu gehen. Höchstens erlaubte ich mir, da ich Paris noch immer nicht verließ, gewisse Spaziergänge mit Frau Swann. Die schönen Tage waren endlich wiedergekommen und brachten Wärme. Da ich wußte, daß Frau Swann vor dem Frühstück eine Stunde lang ausging und ein wenig in der Avenue du Bois nahe dem Étoile und der Gegend, die man »Klub der Entgleisten« nannte (wegen der Leute, die dort den Reichen, die sie nur dem Namen nach kannten, zusahen), promenierte –, setzte ich bei meinen Eltern durch, daß ich am Sonntag – denn in der Woche war ich um diese Zeit nicht frei – erst nach ihnen, um Viertel nach Eins, zu essen brauchte und vorher einen Spaziergang machen durfte. Da Gilberte den ganzen Mai bei Freundinnen auf dem Lande war, versäumte ich keinen Sonntag. Gegen Mittag kam ich zum Arc-de-Triomphe. Ich paßte am Zugang der Avenue auf und verlor keinen Augenblick die Ecke der kleinen Straße aus den Augen, durch die Frau Swann, die nur ein paar Meter zu gehen hatte, von Hause kommen mußte. Da schon, die Zeit war, zu der viele Spaziergänger zum Essen heimkehren, waren die Zurückbleibenden nicht sehr zahlreich, elegante Leute zum größten Teil. Plötzlich erschien auf dem Sand der Allee verspätet, langsam, üppig wie die schönste Blume, die sich erst mittags öffnet, Frau Swann und entfaltete jedesmal eine andere Toilette; als Farbe ist mir besonders »mauve« im Gedächtnis geblieben; dann im Moment ihrer vollkommensten Leuchtkraft hißte und spannte sie auf einem langen Stiel das seidene Zelt eines breiten Sonnenschirms in denselben Farben, wie der Blütenfall ihrer Robe war. Ein richtiges Gefolge umgab sie, Swann, vier oder fünf Herren vom Klub, die sie morgens besucht oder getroffen hatten; ihr schwarzes oder graues Häuflein verschob gehorsam, fast mechanisch sich um Odette als lebloser Rahmen und ließ sie, die allein Glanz in den Augen hatte, zwischen all diesen Männern vor sich hinschauen wie aus einem Fenster, welchem sie sich genähert hatte; zart und ohne Scheu tauchte sie in der Nacktheit ihrer holden Farben auf und erschien wie ein Wesen von anderer Gattung, unbekannter Rasse, begabt mit fast martialischer Macht, dank deren sie allein die Überzahl ihrer Eskorte aufwog. Lächelnd, glücklich über das schöne Wetter, die Sonne, die noch nicht belästigte, mit der vertrauensvollen, ruhigen Miene des Schöpfers, der sein Werk vollendet hat und um das übrige sich nicht kümmert, sicher, daß ihre Toilette – mochten auch gewöhnliche Passanten sie nicht würdigen – die eleganteste von allen war, trug sie sie für sich selbst und, natürlich, für ihre Freunde, ohne übertriebene Betonung, jedoch mit dem Gefühl der Zugehörigkeit; sie verwehrte es den kleinen Schleifen an Taille und Rock nicht, leicht vor ihr hinzuflattern, wie Geschöpfe, deren Gegenwart ihr nicht entging und denen sie nachsichtig erlaubte, sich ihren Spielen nach eigenem Rhythmus hinzugeben, wenn sie dabei nur dem Gange der Herrin folgten, und selbst auf den mauvefarbenen Schirm, den sie oft noch geschlossen hielt, wenn sie ankam, fiel manchmal, wie auf ein Veilchenbukett, ihr glücklicher Blick, der, überaus sanft, wenn er statt ihre Freunde einen unbelebten Gegenstand berührte, noch weiterzulächeln schien. So reservierte und überließ sie ihrer Toilette das elegante Intervall, dessen Ausmaß die Männer, die sie am kameradschaftlichsten behandelte, als notwendiges Gesetz respektierten. Ehrerbietig wie Uneingeweihte, die ihre eigene Unwissenheit in solchen Dingen bekennen, überließen sie ihrer Freundin, darüber zu richten und zu entscheiden wie ein Kranker über seine besondere Pflege oder eine Mutter über die Erziehung ihrer Kinder. Nicht


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