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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel ProustЧитать онлайн книгу.

Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust


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      Herr von Norpois wandte sich geflissentlich an meine Mutter, um sie in die Unterhaltung einzubeziehen und seine Pflicht der Höflichkeit gewissenhaft der Frau des Hauses gegenüber zu erfüllen: »Einer der Umstände, die sicherlich zum Erfolg der Frau Berma beitragen, ist der vollendete Geschmack, mit dem sie ihre Rollen auswählt und der ihr stets spontanen vollwertigen Beifall sichert. Nur selten spielt sie Mittelmäßiges. Sie sehen, sie hat die Rolle der Phèdre in Angriff genommen. Dieser Geschmack zeigt sich in ihren Toiletten wie in ihrem Spiel. Trotzdem sie häufig einträgliche Tourneen durch England und Amerika machte, hat doch nie das Vulgäre – ich will nicht sagen, von John Bull, das wäre ungerecht zum mindesten gegen das England der viktorianischen Ära – aber von Onkel Sam auf sie abgefärbt. Niemals zu auffallende Farben, nie einen zu heftigen Schrei. Dann diese wunderbare Stimme, die ihr so gut dient, auf der sie hinreißend zu spielen weiß, ich fühle mich fast versucht zu sagen, wie auf einem Musikinstrument!«

      Mein Interesse am Spiel der Berma hatte beständig zugenommen, seit die Vorstellung zu Ende war. Es litt nicht mehr unter dem Druck und den Schranken der Wirklichkeit. Aber ich fühlte das Bedürfnis, Erklärungen für dieses Interesse zu finden; während die Berma spielte, war es mit gleicher Heftigkeit auf alles, was sie – in der Unteilbarkeit des Wirklichen – meinen Augen und Ohren zugleich bot, gerichtet gewesen; da konnte es nicht trennen und unterscheiden; jetzt war es glücklich, in Herrn von Norpois' Lobreden auf die Schlichtheit und den guten Geschmack der Künstlerin, eine vernünftige Begründung seiner selbst zu entdecken; es absorbierte gierig diese Lobreden, bemächtigte sich ihrer, wie der Optimismus eines Betrunkenen der Taten seines Nächsten sich bemächtigt, in denen er einen Grund zur Rührung findet. »Ja, wahrhaftig,« sagte ich mir, »welch schöne Stimme ohne alles Schreiende und die schlichten Kostüme und wie einsichtig, die Rolle der Phèdre zu wählen. Nein, ich war nicht enttäuscht!«

      Der kalte Rinderbraten mit Karotten erschien, von dem Michelangelo unserer Küche auf enorme Geleekristalle gelagert, die durchsichtigen Quarzblöcken glichen.

      »Sie haben einen Küchenchef allerersten Ranges, gnädige Frau«, sagte Herr von Norpois. »Und das will etwas besagen. Ich habe im Auslande ein Haus ausmachen müssen und weiß, wie schwer es oft ist, einen perfekten Speisemeister zu finden. Es ist ein wahres Liebesmahl, wozu Sie uns da entboten haben.«

      In der Tat hatte Françoise, aufgestachelt von dem Ehrgeiz, für einen Gast von Rang eine Mahlzeit zustande zu bringen, die Schwierigkeiten bot, die ihrer würdig waren, sich solche Mühe gegeben, wie sie für uns allein nicht mehr aufwandte, und dabei ihre unvergleichliche Manier von Combray wiedergefunden.

      »So etwas kann man sich im Wirtshaus nicht beschaffen, ich spreche nur von den besten Gaststätten: einen Schmorbraten, bei dem das Gelée nicht klebrig schmeckt und das Rindfleisch das Parfüm der Karotten annimmt, das ist bewundernswert! Erlauben Sie mir, noch einmal darauf zurückzukommen«, und er ließ sich noch etwas Gelee geben. »Jetzt wäre ich begierig, Ihren Pfannenkünstler einem ganz andern Kochproblem gegenüberzusehen, ich möchte ihn beispielsweise vor mir haben, wenn er es mit einem Boeuf Stroganoff zu tun bekommt.«

      Um auch seinerseits zur Würze des Mahls beizutragen, gab uns Herr von Norpois verschiedene Geschichten zum besten, mit denen er seine politischen Freunde häufig ergötzte, indem er bald eine lächerliche Wendung aus dem Munde eines Gewohnheitsredners zitierte, der lange Perioden voll unzusammenhängender Bilder macht, bald eines Diplomaten lapidare Formulierung von attischer Feinheit. Ich muß gestehen, das Kriterium, das für ihn beide Arten von Beredsamkeit schied, war ganz anders als das, welches ich auf die Literatur anwandte. Sehr viele Nuancen entgingen mir; die Wendungen, die er laut lachend wiederholte, schienen mir nicht sehr verschieden von denen, die er bemerkenswert fand. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die von den Werken, die ich liebte, sagen: »Sie verstehen das also? Ich muß bekennen, daß ich es nicht verstehe, ich bin nicht eingeweiht«, aber ich hätte ihm mit gleicher Münze heimzahlen können, ich erfaßte weder den Geist noch die Dummheit, weder die Beredsamkeit noch den Schwulst, den er in einem Einwurf oder einer Rede entdeckte; und der Mangel jedes begreiflichen Grundes, warum das eine schlecht, das andere gut sein sollte, bewirkte, daß mir diese Art Literatur geheimnisvoller blieb und dunkler schien als irgend eine andere. Nur eins bekam ich heraus: wiederholen, was alle Welt denkt, ist in der Politik nicht ein Zeichen von Minderwertigkeit, sondern von Überlegenheit. Wenn Herr von Norpois sich gewisser Ausdrücke bediente, die sich in den Zeitungen herumtrieben, und sie mit kräftigem Nachdruck aussprach, fühlte man sie zu einem politischen Bekenntnis werden durch die einfache Tatsache, daß er sie anwandte, zu einem Akt, der Kommentare nach sich zieht.

      Meine Mutter rechnete sehr auf den Salat aus Ananas und Trüffeln. Der Botschafter aber blieb, nachdem er einen Augenblick sein durchdringendes Beobachterauge darauf gerichtet, beim Essen in diplomatische Zurückhaltung gehüllt und gab uns nicht seine Meinung preis. Meine Mutter nötigte ihn, noch einmal davon zu nehmen. Das tat Herr von Norpois auch, sagte aber dabei statt des erhofften Komplimentes: »Ich gehorche, gnädige Frau, da ich sehe, daß es von Ihrer Seite ein wahrhafter Ukas ist.«

      »Wir lasen in den »Blättern«, daß Sie sich des längeren mit dem König Theodosius unterhalten haben«, äußerte mein Vater.

      »Jawohl, der König, der ein ungewöhnliches Gedächtnis für Physiognomien besitzt, hatte, als er mich im Parkett bemerkte, die Güte, sich zu erinnern, daß mir die Ehre widerfahren war, ihn einige Tage hindurch am bayrischen Hof zu sehen, zur Zeit, als er noch nicht an seinen orientalischen Thron dachte (wie Sie wissen, hat ihn ein europäischer Kongreß berufen, und er hat sogar sehr gezögert, diese Krone anzunehmen, die er seiner Familie, der, heraldisch gesprochen, vornehmsten von ganz Europa, etwas unangemessen fand). Ein Adjutant forderte mich auf, Seine Majestät zu begrüßen, und ich habe mich natürlich beeilt, dem Befehl nachzukommen.« »Sind Sie mit den Ergebnissen seines Aufenthaltes zufrieden gewesen?«

      »Oh, ich war entzückt! Es lag nah, einige Befürchtungen zu hegen, wie ein so junger Monarch sich aus der schwierigen Affäre ziehen würde, zumal bei einer so komplizierten Konstellation. Natürlich hatte ich meinerseits volles Vertrauen zu dem politischen Sinn des Fürsten; aber ich muß sagen, daß meine Hoffnungen noch übertroffen worden sind. Der Toast, den er im Élysée hielt und der, wie ich aus bestbeglaubigter Quelle weiß, vom ersten bis zum letzten Wort sein eigenes Werk war, verdiente in vollem Maße das Interesse, welchem er überall begegnete. Dieser Toast ist schlechthin ein Meisterstück, etwas kühn, das muß ich zugeben, aber von einem Wagemut, den die Ereignisse, alles in allem, vollauf gerechtfertigt haben. Die diplomatischen Traditionen haben sicher ihr Gutes, aber in dem besondern Falle hatten sie dazu geführt, daß sein und unser Land in einer dumpfen Atmosphäre lebten, die den Atem benahm. Nun, es gibt eine Art, frische Luft zu schaffen, allerdings eine von denen, die man nicht unbedingt empfehlen kann, die der König Theodosius sich aber erlauben konnte, nämlich: die Fensterscheiben einzuschlagen. Das hat er mit guter Laune getan und alle Welt entzückt, dazu mit einer Treffsicherheit im Ausdruck, an der man gleich das Geschlecht gebildeter Fürsten erkannte, dem er von Mutterseite angehört. Ganz gewiß war, als er von »Wahlverwandtschaften« sprach, die sein Land mit Frankreich verbänden, dies Wort, so ungebräuchlich es im Wortschatz der Kanzleien sein mag, außerordentlich glücklich. Sie sehen (dabei wandte er sich an mich), Literatur schadet nicht, selbst in der Diplomatie, ja selbst auf dem Thron. Die Tatsache stand seit langem fest, das geb ich zu, und die Beziehungen der beiden Länder waren bereits ausgezeichnete geworden. Allein, das mußte noch ausgesprochen werden. Man wartete auf das Wort, es wurde das rechte gefunden. Sie haben gesehen, wie es gewirkt hat. Ich meinesteils habe von ganzem Herzen Beifall gezollt.« »Da mag Ihr Freund, Herr von Vaugoubert, der die Annäherung seit Jahren vorbereitete, zufrieden gewesen sein.«

      »Um so mehr als Seine Majestät, wie das so seine Art ist, Wert darauf legte, ihm damit eine Überraschung zu bereiten. Überrascht war übrigens alle Welt, angefangen vom Minister des Äußeren, der, wie ich gehört habe, die Sache nicht nach seinem Geschmack fand. Einem, der ihm davon sprach, soll er sehr eindeutig und laut genug, daß es die nächsten hören konnten, erwidert haben: »Man hat mich weder zu Rat gezogen noch vorbereitet«, womit er klar zu verstehen gab, daß er jede Verantwortung in der Angelegenheit ablehne. Die hat allerdings einen schönen Spektakel ergeben, und ich möchte nicht zu behaupten wagen (er lächelte spöttisch),


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