Island. Marie KrugerЧитать онлайн книгу.
Schallplatten und Touristen kontinuierlich nach Island. Dennoch wird es den Amerikanern zugeschrieben, beispielsweise Jazz und Spielfilme im großen Stil im breiten Bewusstsein etabliert zu haben. Die Isländer können während des Zweiten Weltkrieges regelmäßig ins Kino gehen und sich mit der neuesten Mode auseinandersetzen. Schon kurz nach Kriegsende kommen amerikanische Filmstars nach Island, das 1944 Republik wird. Seit 1952 sendet ein amerikanisches Radioprogramm, dem 1954 ein Fernsehsender folgt – elf Jahre, bevor das isländische Fernsehen auf Sendung geht. Parallel werden Stimmen laut, die durch den Einfluss des »Amisenders« (kanasjónvarp) die einheimische Kultur und gar die isländische Sprache in Gefahr sehen. Der amerikanische Fernsehsender durfte schließlich immerhin bis 1974, der Radiosender sogar bis zum Truppenabzug 2006 senden. Nicht zuletzt deshalb wirkt der amerikanische Lebensstil prägend für die neugierige junge Generation, die in einer freien und plötzlich wohlhabenden Republik lebt und sich somit gewisser Kaufkraft erfreut.
Die Kriegsjahre bringen also eine Loslösung Islands auf zwei Ebenen mit sich: Zum einen wird 1944 die Autonomie durch die Unabhängigkeit gekrönt und Island so von seiner jahrhundertelangen Zugehörigkeit zum Königreich Dänemark und damit in gewisser Weise auch von Europa abgekoppelt. Zum anderen wendet sich die junge Republik den USA zu, die die Industrialisierung des Inselstaates enorm vorantreiben und – entgegen der ursprünglichen Vereinbarung – auch nach Kriegsende im Land bleiben. Es sind der Frei- und Pioniergeist der ersten Siedler, die Besinnung auf das mittelalterliche kulturelle Erbe und der American way of life, die identitätsstiftend für die Isländer wirken.
Freund oder Feind: Europa oder Amerika?
Auch wenn es pathetisch klingt: Das nationale Herz schlägt direkt über der Kontinentaldrift und so gesehen sowohl in Amerika als auch in Europa. Der isländischste aller Orte heißt Þingvellir (»Thingfeld«), liegt unweit des Hauptstadtgebietes im Landesinneren und gehört zusammen mit dem aktiven Geysir Strokkur und dem Wasserfall Gullfoss zum sogenannten golden circle. Meine allerersten isländischen Vermieter betrachteten es offenbar als ihre staatsbürgerliche Pflicht, mir, kaum dass ich meine Taschen ausgepackt hatte, diesen Ort zu zeigen, denn hier haben die Isländer ihre wichtigen Entscheidungen getroffen und jahrhundertelang über Recht und Unrecht bestimmt.
Das Jahr 930 gehört zu den Sternstunden der isländischen Geschichte und jedes Kind kennt diese Jahreszahl, da sich damals die wichtigen Männer des Landes wohl erstmals in Þingvellir versammelten. Die Wahl fiel auf genau jenes, damals noch namenlose Plateau als Versammlungsort, da es sich in der Nähe der seinerzeit wichtigsten Siedlungen befand und aus allen vier Himmelsrichtungen gut zu Pferd zu erreichen war. Bis 1798 fand hier einmal jährlich die »nationale« Thingversammlung, das Alþingi statt – unter günstigen natürlichen Bedingungen: Es gab genug ebene Fläche zum Errichten der Lagerstätten, Feuerholz, Trinkwasser, Schutz vor Wind und eine Art natürliche Bühne. Von dem sogenannten Lögberg, dem Gesetzesberg, wurden eben wichtige Entscheidungen, Nachrichten und die gültigen Gesetze verkündet.
Da der Ort ständig in Benutzung war, gibt es bis auf die Reste einiger Thinghütten nichts wirklich Altes zu besichtigen. Man wird aber anhand von angelegten Wegen, Bild- und Texttafeln über das Feld geleitet, wo an vielen Stellen die Kontinentaldrift beeindruckend sichtbar ist und man einen von Islands größten Seen, den schönen Þingvallavatn (»Thingfeldsee«) betrachten kann. Man spürt anhand der Aufbereitung, wie wichtig die Stätte den Isländern war und ist. Themen, die Þingvellir betreffen, können die Gemüter erhitzen – egal, ob es um die Frage nach einem Ehrenfriedhof, der »richtigen« Bepflanzung oder um die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands geht, der im Zweifel eine Brücke zum Opfer fallen würde. Zum 1000. Geburtstag des Alþingi wurden neben der Kirche aus dem Jahr 1859 kleinere Häuser errichtet, die heute als Sommerresidenz des Ministerpräsidenten dienen. So wurde letztlich auch die – für isländische Verhältnisse neue – Institution der Regierung, die es hier erst seit dem 20. Jahrhundert gibt, mit dem nationalen Herzort verbunden, an dem Parlament und Gerichtsbarkeit schon immer gegenwärtig waren. Deshalb fanden hier in den Jubeljahren alle Nationalfeiern statt. 1874 waren 1000 Jahre Besiedlung und die erste Verfassung der Anlass, 1930 feierte das Alþingi seinen 1000. Geburtstag, 1944 wurde hier die Republik ausgerufen, was 50 Jahre später nochmals Anlass für eine große Party in þingvellir war, und im Jahr 2000 feierte man 1000 Jahre Christentum. Diese Daten sind für die Isländer von immenser Bedeutung, weshalb es sich lohnt, sie im Kopf zu haben, da ständig auf sie Bezug genommen wird. Þingvellir hat also geschichtliche, ideologische und geologische Bedeutung, sodass sowohl die Gründung eines Nationalparks im Jahr 1930 als auch die Aufnahme ins Weltkulturerbe der UNESCO im Jahr 2004 geradezu logische Konsequenzen sind.
Gefeiert werden ausschließlich Ereignisse, die etwas mit freier Entscheidung, Unabhängigkeit und Demokratie zu tun haben. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder fällt, ist »Freistaat«, womit die Jahre von der Besiedlung bis 1262 gemeint sind, in denen Island ein freies Land war, seine Obrigkeiten selbst ernannte und die Entscheidungen eben gemeinsam auf den lokalen Thingen und dem Alþingi getroffen wurden. »Freistaat« ist in den Augen meiner isländischen Freunde, die des Deutschen mächtig sind, eine unglückliche Übersetzung, da þjóðveldi eher »Volksreich« bedeutet und exklusiv Island in jener Zeit bezeichnet, während der Begriff »Freistaat« auf Deutsch auch noch anderweitig verwendet wird. Diese Epoche passt in vielem zu heutigen Wertevorstellungen und ist zudem für das mittelalterliche Europa so einzigartig, dass deren Verklärung kaum überrascht. Diese glorreiche »Staatsform« bekam jedoch schon im 12. Jahrhundert erste Kratzer, weil einige Familien begannen, massiv Macht an sich zu reißen. Eigentlich ist spätestens für das Island des 13. Jahrhunderts der Begriff »Freistaat« nicht mehr angemessen, da es de facto eine Oligarchie ohne politisches Gleichgewicht geworden war, die sich zudem in einem heftigen Teufelskreis aus Fehden und Blutrache befand. Irgendwann wussten die Isländer sich offenbar selbst nicht mehr zu helfen und orientierten sich nach Osten, also nach Europa.
1262 wurde ein Vertrag unterzeichnet, der den norwegischen König verpflichtete, den Krieg in Island zu beenden, Isländern die kostenlose Einreise nach Norwegen zu garantieren und das Land von Norwegen aus mit genug Waren zu versorgen, da die Isländer selbst keine Schiffe hatten. Es sollten weiterhin isländische Gesetze gelten und die Möglichkeit bestehen, sich von dem Vertrag loszusagen, wenn der König die Isländer enttäuschte. Auf der einen Seite zwang der Vertrag die Isländer, dem König Steuern zu zahlen. Er setzte außerdem Beamte, meist Isländer, ein, die seine Interessen vertreten und zum Beispiel die Steuern eintreiben sollten. So wurden einerseits die »demokratische« Organisation und das System der Selbstbestimmung ausgehebelt, da die gesetzgebende Gewalt nicht mehr ausschließlich beim Alþingi, sondern eben auch beim König bzw. dessen Gesandten lag. Es dauerte nur ein paar Jahre, bis die Isländer ihre Gesetze im norwegischen Sinne überarbeiteten und die Blutrache abschafften. Auf der anderen Seite kehrte Frieden ein und das »Schreibezeitalter« (ritöld) begann. Dieses ist neben dem Freistaat eine andere glorreiche Epoche der Isländer, in der sie mit den eddischen und skaldischen Gedichten, ihren Chroniken und den Sagas erneut Einzigartiges schaffen, das sie noch heute weltberühmt macht.
Auch wenn sich die Isländer im 14., 15. und 16. Jahrhundert immer wieder auf den Vertrag von 1264 und ihre eigenen Gesetze beriefen, waren sie doch stark von Norwegen und ab 1383 von Dänemark – also Nordeuropa – abhängig. Damals schworen sie Ólafur, dem Sohn des verstorbenen norwegischen Königs und der Tochter des dänischen Königs, die Treue. Als Ólafur im Alter von 17 Jahren starb, verstand es seine Mutter danach, die Vorherrschaft der Dänen in Nordeuropa auszubauen, sodass Island sozusagen sang- und klanglos über Norwegen Provinz des dänischen Reiches wurde. Der Einfluss des jeweiligen Herrschers auf die isländische Gesetzgebung wuchs, zumal der König die oberste Gerichtsbarkeit war. Seine Beamten entwickelten sich zum isländischen Adel, und das Alþingi wurde mal mehr, mal weniger zu einer Institution, die die Interessen des Königs in Island installierte. Die Isländer beharren heute trotzdem darauf, dass in jenen Jahrhunderten das Alþingi noch eine gewisse gesetzgebende und richterliche Gewalt hatte und der König auf der anderen Seite des Ozeans war. Trotzdem begann er spätestens mit der Reformation, die hier 1541 unter Christian III. vollzogen wurde, sich an Island zu bereichern.