Toni der Hüttenwirt Paket 1 – Heimatroman. Friederike von BuchnerЧитать онлайн книгу.
ist eine Katastrophe. Verstehst du, was ich meine? Alles ist so hektisch und unruhig. Aus der kleinsten Kleinigkeit wird eine große Sache gemacht. Deshalb habe ich das so genossen.«
»Ich kann nur erahnen, wie du das meinst. Weißt du, die Berge hier, die sind ewig. So sagt man. Sie waren immer da und werden immer da sein. Sie spenden Ruhe. In ihrer Nähe sind die Leute gelassener. Die Natur hat ihre eigenen Gesetze. Der Mensch ist nur ein kleines Ding, ein winziger Teil innerhalb der Schöpfung Gottes. Über viele Jahrhunderte haben die Menschen hier in den Bergen gelernt, in Einklang mit der Natur zu leben. Deshalb will ich auch niemals von hier fort, niemals.«
Anna blieb kurz stehen und schaute auf den Boden. Sie durchquerten gerade einen Tannenwald. Sie bückte sich und hob einen Tannenzapfen auf.
»Du würdest wirklich niemals woanders hingehen?«
»Nein! Ich habe Freunde, die aus den Bergen fortgezogen sind. Ich habe sie auch schon besucht. Alle haben Heimweh. Weißt du, es ist nicht nur Heimweh nach der Familie, dem Dorf, den Bergen. Das geht viel, viel tiefer.«
Am Wegesrand stand eine Holzbank. Sie setzten sich. Anna schaute sich um. Von hieraus konnte man schon weit über das Tal sehen.
»Wir sind schon ziemlich hoch, wie?«
»Ja, so ungefähr fünfhundert Meter haben wir schon geschafft. Es ist jetzt nicht mehr weit. Nach der nächsten Kurve kannst du die Alm schon sehen.«
Anna saß ganz still da. Ihre Hände ruhten in ihrem Schoß. Sie hatte kein Bedürfnis zu sprechen. Sie schaute nur und atmete die klare Luft, genoß die Stille. Dabei merkte sie, wie ein tiefer Friede in ihre Seele einzog. Antonius beobachtete sie.
»Es ist schön hier. Ganz allmählich verstehe ich, was Sue mir immer beschrieben hat. Hier steht die Zeit still. Alles, was wichtig erscheint, tritt in den Hintergrund. Es ist so friedlich.«
»Hier steht die Zeit still, das hast du schön gesagt.« Antonius streckte den Arm vor. »Schau, ich trage auch keine Uhr. Die brauche ich hier nicht. Die Sonnenstrahlen, wie sie auf die Felswände und Gipfel fallen und die Schatten aus den Tälern vertreiben, daran lese ich die Zeit ab. Die Glocken der Kirche läuten den Mittag ein und rufen am Ende des Tages zur Vesper.«
Anna rieb sich die Augen.
»Was hast du? Blendet dich die Sonne?«
»Das Licht hier in den Bergen ist auch anders. So hell, irgendwie rein, unverfälscht.«
Antonius hielt ihr seine Sonnenbrille hin, die er in der kleinen Brusttasche seines Hemdes hatte.
»Nein, danke! Ich will das Licht sehen und fühlen.« Sie lachte. »Wie kann ich es dir beschreiben, Toni? Es fällt mir schwer, dafür die richtigen Worte zu finden. Es ist alles so festlich, so hell und klar, so voller strahlendem reinem Licht. Dabei ist es die gleiche Sonne, die überall scheint. Doch hier leuchtet sie anders, sie strahlt.« Anna wirkte hilflos.
»Ich verstehe dich! So geht es vielen Menschen, wenn sie zum ersten Mal in den Bergen sind.«
»Toni, ich fühle mich auch ganz anders. Ich bin ein ganz anderer Mensch. Irgend etwas passiert hier mit mir. Wie kann ich dir das beschreiben?«
»Das mußt du nicht. Ich verstehe dich! Laß es einfach zu. Freue dich darüber. Das ist es, was viele Menschen immer und immer wieder in die Berge zieht. Hier sind sie eins mit der Natur und kommen auch mit sich ins reine.«
»Wie meinst du das?«
»Weißt du, das ist eigentlich ganz einfach. Wenn ich ein Problem habe, das mich bedrückt, dann gehe ich in die Berge. Ich mache eine schöne Bergwanderung, ganz alleine. Manchmal verabrede ich mich auch mit Freunden, alle gute Bergsteiger. Dann erklimmen wir einen Gipfel. Wenn ich dann zurückkomme, dann weiß ich, was ich tun muß, ohne daß ich viel nachgedacht habe. Die Berge gaben mir Ruhe. Sie schenkten meiner aufgewühlten Seele Frieden und mein Herz weiß, was es tun muß.«
Anna schaute ihn überrascht an.
»Das kann ich langsam nachvollziehen, mit der Ruhe und so. Aber ich kann mir schlecht vorstellen, daß du mit Problemen belastet bist.«
»Probleme sind es eigentlich nicht. Aber es gibt immer mal wieder Fragen, die sich nicht so einfach beantworten lassen. Es ist, wie wenn man einen Berg besteigen will. Es gibt immer verschiedene Routen, das Gipfelkreuz zu erreichen. Jeder Weg hat seine Gefahren und Risiken, seine schönen Strecken und seine gefährlichen Abschnitte. Da muß man abwägen. Im Leben ist es doch genauso. Immer wieder kommt man an eine Wegkreuzung. Welcher Weg ist der Richtige? Oft ist es nicht überschaubar. Der Verstand sagt, tue es nicht und das Herz sagt mach’s.«
Anna schaute ihm tief in die Augen.
»Du denkst jetzt an etwas Bestimmtes?«
»Ja! Ich wußte nicht mehr weiter. Da bin ich in die Berge. Ich bin einfach mit meiner Wanderausrüstung losgezogen, eigentlich ziellos. Doch die Berge haben mich geführt, sage ich heute.«
»Und? Fandest du einen Weg? Weißt du, welche Richtung du gehen willst?«
»Ungefähr! Noch ist nichts entschieden. Aber es ist Frieden eingekehrt in mein Herz.«
»Wenn du willst, kannst du es mir erzählen.«
Antonius fing gleich an:
»Weißt du, daß mein Vater und meine Mutter die Pension und das Gasthaus haben. Das gibt es alles schon lange, sehr lange. Es wurde immer vom Vater auf den Sohn vererbt. So soll es auch bleiben. Nur die Zeiten haben sich geändert. Man lebt heute anders als vor hundert Jahren. Damals war es so, daß der Sohn bis zum Tode seines Vaters bei ihm gedient hat, wie ein Knecht. Die Väter hatten das Sagen. Das war auch gut so. Doch heute braucht man ein anderes Einkommen. So eine Pension wirft nicht genug ab für zwei Familien – und ich muß auch mal an die Zukunft denken. Da habe ich meinem Vater vorgeschlagen, daß er mich zum Teilhaber macht. Wir hätten dann einen großen Anbau gemacht und so mehr Zimmer vermieten können. Auch die Gaststube hätten wir vergrößert. Doch Vater wollte nicht. Er und Mutter sind zufrieden mit dem, wie es ist. Sie machen alles alleine. Sie wollen keine fremden Leute, die helfen. Mehr Geld und Umsatz reizt sie nicht. Ich war etwas enttäuscht. Es fiel mir schwer, die Entscheidung meines Vaters anzuerkennen. Wir hatten damals einen richtigen Streit. Das war im letzten Frühjahr. Weißt du, wir Bergler, wie du uns nennst, können auch echte Sturköpfe sein. Jedenfalls nahm mich meine Mutter zur Seite und sagte, ich solle doch ein paar Tage wandern gehen. Auf diese Idee hätte ich auch alleine kommen können. So zog ich los.«
Antonius lächelte sie an.
»Und dann? Was war dann?«
»Ich habe die Lösung gefunden. Na, das ist vielleicht übertrieben. Aber zumindest die Richtung. Das habe ich dann mit meinem Vater ausführlich besprochen. Jetzt verstehen wir uns wieder gut. Er meint, ich sollte das ruhig probieren. Wenn ich es nicht versuchen würde, dann würde ich immer davon träumen und um die verschenkte Möglichkeit trauern.«
»Klingt geheimnisvoll. Du willst mir nicht genau erzählen, um was es sich dabei handelt?«
Antonius schwieg eine Weile.
»Kann ja nix schaden, wenn ich es dir erzähle. Oberhalb der Alm, dort, wo wir hingehen, wo der Bello jetzt ist, da gibt es eine alte Berghütte. Sie liegt sehr einsam. Die Berghütte ist sehr verfallen. Denn da hinauf gibt es keine Straße. Es wird auch niemals eine geben. Sie ist also nur zu Fuß erreichbar. Die würde ich gern pachten und ausbauen und über den Sommer dort Hüttenwirt sein.«
»Ah, dann soll dir Bello mit dem Wägelchen helfen, die Sache raufbringen?«
»Genauso ist es gedacht. Ich dachte, daß ich erst mal sehe, ob der Bello das schafft, dann plane ich weiter.«
Anna schaute Toni von der Seite scheu an.
»Wäre es sehr unverschämt, dich zu bitten, mir die alte Berghütte zu zeigen?«
»Nein! Das mache ich gerne!« rief er begeistert aus und bremste sich gleich wieder. »Du interessierst dich wirklich dafür?«
»Klar!