Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. СтендальЧитать онлайн книгу.
noch unerbittlicher geworden sei, seitdem sich der Vikar Maslon den Ertrag der Baumschur anzueignen beliebt. Das ist ein junger Geistlicher, vor ein paar Jahren von Besançon herversetzt, um dem Abbé Chélan und etlichen andern Pfarrern der Nachbarschaft auf die Finger zu sehen.
Ein alter Stabsarzt der ehemaligen Armee in Italien, der sich in Verrières zur Ruhe gesetzt hatte und zu seinen Lebzeiten (wie der Bürgermeister zu sagen pflegt) Jakobiner und Bonapartist, alles beides zusammen, gewesen war, erlaubte sich gelegentlich einmal, über die regelmäßig wiederkehrende Verstümmelung der schönen Bäume Beschwerde zu führen.
Mit der leichten Herablassung, die angebracht ist, wenn ein Royalist mit einem napoleonischen Stabsarzt und Ritter der Ehrenlegion spricht, entgegnete Rênal:
» Ich liebe den Schatten. Ich lasse meine Bäume verschneiden, damit sie Schatten geben. Meiner Ansicht nach sind Bäume zu nichts anderm da. Eine Ausnahme macht der nützliche Nußbaum. Aber die Platanen bringen ja nichts ein!«
Etwas einbringen! Das war das geflügelte Wort, das in Verrières allenthalben den Ausschlag gab. Hierin verdichtete sich das Denken und Trachten von mehr als drei Vierteln der Einwohner.
Etwas einbringen! Das ist das Leitmotiv im Betriebe dieser Kleinstadt, die einem so gefällt. Der Fremde, der sie betritt, wird durch die Anmut der kühlen tiefen Täler ringsum bezaubert. Er bildet sich zunächst ein, ihre Bewohner seien empfänglich für das Schöne. Sie reden auch oft genug von den Reizen ihrer Heimat und rühmen sie gar sehr. Aber dies geschieht nur, weil es die Fremden anlockt, die ihr Geld in den Gasthäusern lassen, was, auf dem Umwege der Steuern, der Stadt etwas einbringt.
An einem schönen Herbsttage ging Herr von Rênal auf der Stadtpromenade spazieren, seine Frau am Arm. Sie hörte zwar ihrem Manne zu, der in gewichtigem Tone sprach, folgte aber mit ihren Blicken voller Unruhe den Bewegungen ihrer drei Knaben. Der älteste, der elf Jahre alt sein mochte, lief immerfort an die Brüstung und machte Miene, hinaufzuklettern. Jedesmal rief sie mit sanfter Stimme »Adolf!«, worauf der Junge von seinem kecken Vorhaben abließ. Frau von Rênal war offenbar eine Dreißigerin, doch noch sehr hübsch.
Ihr Mann redete immer weiter. Er sah schlechtgelaunt aus und blasser denn sonst.
»Es soll ihm übel bekommen, diesem lieben Herrn aus Paris!« sagte er. »Ich habe auch meine Freunde bei Hofe…«
Dieser liebe Herr aus Paris, auf den der Bürgermeister so schimpfte, war der bekannte Philanthrop Appert, der es zwei Tage vorher zuwege gebracht hatte, nicht allein das Stadtgefängnis und das Armen-und Arbeitshaus von Verrières zu besichtigen, sondern auch das Spittel, das vom Bürgermeister und den ersten Grundbesitzern des Ortes ehrenamtlich verwaltet ward.
»Sag einmal«, warf Frau von Rênal bescheiden ein, »was kann dir dieser Herr aus Paris denn anhaben, wo du das Gut der Armen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit verwaltest?«
»Solche Leute kommen bloß, um alles mögliche auszuschnüffeln und hinterher in den liberalen Zeitungen zu benörgeln.«
»Die liest du ja nie, mein Lieber!«
»Aber man kriegt sie doch zu hören, diese Jakobinerartikel! Es stört einen und hindert uns an der sozialen Arbeit. Was mich anbelangt, ich werde das dem Pfarrer nie und nimmer verzeihen!«
3. Kapitel
Chélan, der Pfarrer von Verrières, war ein alter Mann von achtzig Jahren, der sich aber in der frischen Bergluft einer Gesundheit erfreute, die ebenso eisern war wie sein Charakter. Er hatte das Recht, das Stadtgefängnis, das Spittel und sogar das Armenhaus zu jeder Stunde zu betreten. Der ihm von Paris aus empfohlene Appert war wohlweislich in der neugierigen Kleinstadt früh Schlag sechs Uhr angekommen und hatte sich schnurstracks in das Pfarrhaus begeben.
Als der alte Mann den Brief las, den der Marquis von La Mole, Pair von Frankreich, der reichste Großgrundbesitzer des Kreises, an ihn richtete, stand er lange nachdenklich da.
»Ich bin alt und beliebt hier«, murmelte er schließlich vor sich hin. »Man wird es nicht wagen!«
Alsbald wandte er sich dem Herrn aus Paris zu. In seinen Augen glänzte das heilige Feuer der Freude über eine schöne, nicht ungefährliche Tat.
»Herr Appert, ich werde Sie führen«, sagte er. »Nur bitte ich Sie, sich in Gegenwart des Kerkermeisters und vor allem des Aufsehers im Armenhaus nicht über das zu äußern, was wir da sehen werden.«
Appert merkte, daß er es mit einem Gemütsmenschen zu tun hatte. Er folgte dem ehrwürdigen Geistlichen und besichtigte das Stadtgefängnis, das Spittel und das Armenhaus. Er stellte häufig Fragen, erlaubte sich jedoch selbst auf die verfänglichsten Auskünfte nicht das geringste Wort des Tadels.
Die Besichtigung dauerte mehrere Stunden. Hierauf lud der Pfarrer den Menschenfreund zu sich zum Mittagmahl ein. Der entschuldigte sich damit, er habe dringliche Briefe zu schreiben. In Wahrheit wollte er seinen hochherzigen Führer nicht noch mehr in Gefahr bringen.
Als die beiden Herrn am Nachmittag nochmals nach dem Stadtgefängnis kamen, stand der Kerkermeister, ein baumlanger Kerl mit Säbelbeinen, am Tor. Sein niederträchtiges Gesicht war vor Schreck verzerrt.
»Herr Pfarrer«, sagte er, sobald er ihn erblickte, »ist der Herr in Ihrer Begleitung nicht Herr Appert?«
»Warum?« fragte der Geistliche.
»Ich habe nämlich seit gestern die strengste Order… Der Herr Landrat hat extra den Brigadier hergejagt, und der ist die ganze Nacht unterwegs gewesen. Galopp hat er reiten müssen: ich soll Herrn Appert nicht in das Stadtgefängnis lassen.«
»Ich will ihnen nur sagen, Herr Noiroud«, gab ihm Chélan zur Antwort, »der Fremde, der mich begleitet, ist Herr Appert. Sie wissen wohl, daß ich zu jeder Stunde bei Tag und Nacht das Recht habe, das Gefängnis zu betreten, und daß ich mich dabei begleiten lassen kann, von wem ich will!«
»Jawohl, Herr Pfarrer!« gab der Kerkermeister kleinlaut zu und zog den Kopf ein wie eine Bulldogge, die sich vor dem Stocke duckt. »Aber, Herr Pfarrer, ich habe Frau und Kinder. Wenn es herauskommt, werde ich abgesetzt. Ich habe nichts zum Leben als bloß meine Stelle.«
»Auch mir wäre es sehr schmerzlich, wenn ich meine Stelle verlöre«, sagte der gutmütige alte Mann, und seine Stimme wurde immer weicher.
»Das ist ganz was andres!« erwiderte der Kerkermeister laut. »Sie, Herr Pfarrer, Sie haben bekanntlich eine Rente von achthundert Franken aus dem hübschen Landgütchen.«
Das waren die Geschehnisse, die man in Verrières seit zwei Tagen erörterte und in einem Dutzend verschiedener Lesarten entstellte. Sie hatten den Pfuhl der Leidenschaften des Städtchens bis in den Grund aufgewühlt. Augenblicklich gaben sie den Stoff zu dem kargen Gespräch zwischen Herrn von Rênal und seiner Frau.
Der Bürgermeister hatte am Vormittag in Begleitung von Herrn Valenod, dem Vorstand des Armenamts, den Pfarrer aufgesucht und ihm sein größtes Mißfallen ausgedrückt. Der Geistliche, der keinen hohen Gönner hatte, empfand die volle Schwere ihrer Worte.
»Meine Herren«, erwiderte er, »so werde ich denn mit meinen achtzig Jahren der dritte Pfarrer sein, den man in hiesiger Gegend absetzt. Ich bin jetzt sechsundfünfzig Jahre hier und habe nahezu alle Einwohner der Stadt getauft. Als ich herkam, war Verrières nur ein Marktflecken. Es ereignet sich Tag um Tag, daß ich junge Leute traue, deren Großeltern ich auch schon getraut habe. Die Stadt ist meine Familie. Aber als ich vorgestern den Fremden sah, den Herrn aus Paris, da habe ich mir gesagt: Möglicherweise ist das ein Liberaler. Deren gibt es ja viel zu viele. Aber was kann er unsern Armen und unsern Gefangenen Böses antun?«
Die Vorwürfe des Bürgermeisters und besonders des Armenamtsvorstandes wurden nur noch heftiger.
»Meine Herren!« rief der alte Pfarrer mit bebender Stimme. »Veranlassen Sie, daß ich gemaßregelt werde! Deswegen werde ich doch im Lande bleiben. Wie Sie wissen, habe ich vor achtundvierzig Jahren ein Grundstück geerbt, das mir achthundert Franken Pacht bringt. Davon werde ich leben. Meine Pfarre gewährt mir auch nur meinen Unterhalt, und so schreckt mich Ihre Drohung, sie mir zu nehmen, nicht besonders.«
Herr von Rênal lebte mit seiner Frau sehr glücklich.