Schritte an der Grenze. Gabriella Baumann-von ArxЧитать онлайн книгу.
einmal: »Es geht mir gut.«
Die beiden trafen sich später noch zwei weitere Male. Das erste Mal auf dem Gipfel. Das zweite Mal beim Abstieg, wo Russell mitansehen musste, wie sich sein Freund, statt sich zur Sicherung am Fixseil einzuklinken, neben die Abstiegsroute begab und dort begann, sich auszuziehen. Russell kannte dieses Phänomen. Es hat einen Namen: Hyperthermie. Wärmeschub. Ist die Erschöpfung zu groß, sind die Reserven bis aufs Letzte ausgeschöpft, wird der Körper ganz heiß. Es ist ein letztes Aufbäumen, ein letztes Mobilisieren der allerletzten Kräfte – um zu sterben. So zumindest interpretiere ich es.
Marc blieb oben. Für immer. Russell hat für ihn einen Gedenkstein niedergelegt. Hinter unserem Basislager auf einem kleinen Hügel, wo – vor Jahren – eine Art Gedenkstätte eingerichtet worden ist. Für diejenigen, die der Berg nicht mehr freigibt. Es ist ein Platz, den ich immer wieder aufsuche, um mich den Menschen, deren Leben am Berg ein Ende nahm, nahe zu fühlen und um allein zu sein. Russell schweigt lange, schließlich meint er, Marcs Geschichte lasse ihm wohl noch lange keine Ruhe. Er nimmt einen Schluck Whisky, dann spricht er weiter. »Ihr werdet auf Tote treffen bei eurem Aufstieg. Der ›Black and White Man‹ allerdings, der bleibt euch erspart.«
Der »Black and White Man«, dessen Name man bei der Gedenkstätte auch findet, lag lange Zeit in seinem vom Wind zerfetzten Zelt. Die eine Gesichtshälfte schwarz gefroren, die andere von der Sonne ausgebleicht. Eines Tages hat ihn der Wind vom Berg gefegt oder vielleicht – man weiß es nicht genau – hat ein Bergsteiger oder ein Sherpa genügend Energie besessen, um ihn über die Felswand in die Tiefe zu rollen.
Die richtigen Namen der Toten kennt man nicht, sondern nur die, die ihnen der Mount Everest gegeben hat. »Sleeping Man«, schlafender Mann, »Indian Man«, indischer Mann, »Waving Man«, winkender Mann, und »American Woman«, amerikanische Frau.
Der schlafende Mann liegt unter einem Felsen, der Mushroom-Rock genannt wird, weil er aussieht wie ein Pilz. Er hat sich – vermutlich beim Abstieg – unter diesen Stein gelegt, um sich auszuruhen. Er liegt in Embryostellung auf der Seite, seine Hände liegen – Handfläche auf Handfläche gelegt – unter seinem Kopf. Ich weiß, dass ich beim Aufstieg über ihn hinwegsteigen muss. Ich wusste das schon zu Hause. Und habe mich gefragt, ob ich das wollte? Will ich über Leichen gehen, um zum Gipfelerfolg zu kommen? Aber ich habe mir eingeredet, dass ihn wohl derselbe Wunsch nach oben getrieben hat wie mich. Weshalb sollte ich also meinen Traum aufgeben, weil er ihn aufgeben musste? Man kann sagen, er hat seinen Wunsch, auf dem Mount Everest zu stehen, mit dem Leben bezahlt. Ich denke, es muss schön sein, so zu sterben, nicht an einer Krankheit und nicht im Bett, sondern während der Erfüllung eines lange gehegten Traumes. Schrecklich ist der Tod nur für die, die zurückbleiben, da bin ich mir sicher. Diejenigen, die gehen, fühlen keinen Schmerz.
Der winkende Mann befindet sich oberhalb des Second Step, sieben Meter von der Route weg, in einem Geröllfeld. Einer seiner Arme ragt steif gefroren in die Höhe, sodass man glaubt, er winke einem zu. Der Inder liegt im Gipfelbereich, und zwar so, dass man ihn nicht sieht, wenn man die Route nicht verlässt. Auf die Amerikanerin trifft man beim Abstieg, unterhalb des First Step. Sie liegt auf dem Rücken, die Arme an ihre Seiten gepresst. Russell kennt auch ihre Geschichte: »Sie war mit einer polnischen Expedition unterwegs und beim Abstieg zu langsam. Weil die Visa ihrer Teamkollegen bald abliefen, machten diese Tempo und kümmerten sich nicht weiter um sie. Ein nachträglich verlängertes Visum kostet fünfzig Dollar.« Am Mount Everest ist ein Menschenleben keine fünfzig Dollar wert.
Falsch. Russell hat es schon viele Male bewiesen. Er, der gut Organisierte, hat – zusammen mit seinen Sherpas – schon oft Menschen über 8000 Metern geholfen, lebend runterzukommen, hat dabei sogar Sauerstoffflaschen verschenkt. Eine Flasche kostet, bis sie oben am Berg ist, gut und gern 500 Dollar. Das Zehnfache eines verlängerten Visums also.
Als wir den Rest der Whisky-Flasche verteilen, sagt Russell: »Der Versuchung des Gipfels nicht widerstehen zu können, das ist der größte Fehler, den man machen kann.« Wir alle wissen, wovon er spricht: Gipfelfieber. Wer nicht Punkt zwölf Uhr ganz oben steht – und ganz oben heißt ganz oben –, muss umkehren. Auch dann, wenn das Ziel in schier greifbarer Nähe liegt und ein Abstieg in die Sicherheit sehr viel mehr Willenskraft braucht als ein ehrgeiziges Weitergehen. Wer dieses Gesetz nicht respektiert, nimmt den Tod in Kauf. Einer von uns, aber das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht, würde der Versuchung nicht widerstehen können.
Als wir uns eine gute Nacht wünschen, bin ich sehr nachdenklich, aber auch sehr glücklich. Unsere Gemeinschaft hier ist schön. Mir wird einmal mehr bewusst, dass ich die Einsamkeit nur deshalb so liebe, weil ich jederzeit in eine Gemeinschaft zurückkehren kann.
Als ich ins Zelt komme und meinen Wecker stelle, sehe ich, wie spät es geworden ist. Mir bleiben noch zweieinhalb Stunden Schlaf, bevor ich mit Robert einen Vorstoß auf 6350 Meter machen werde, um unsere Körper weiter zu akklimatisieren.
Als ich aufstehe, hat Robert schon längst seinen dritten Kaffee getrunken und ist voller Tatendrang. Er ist unheimlich schnell unterwegs. Ich stapfe ihm nach. Ich habe Kopfschmerzen. Von der Höhe. Vielleicht. Oder aber vom Kater. Egal. Ich muss da jetzt einfach durch. Wenn du saufen kannst, Evelyne, sage ich mir, dann kannst du auch laufen. Es ist sehr kalt, der Wind bläst, ich will nur eines, zurück in mein Zelt, aber mein Kopf ist stärker, er setzt sich durch. »Zwängigrind«, so hat mich mein Vater oft genannt. Und es ist gut, dass ich weitergehe, denn zum ersten Mal wird mir bewusst, dass es hier weder Raum noch Zeit zu geben scheint, dass sich Distanzen kaum mehr messen lassen, weder in Metern noch in Minuten. Das Gefühl von »bald bist du oben« habe ich an diesem Tag x-mal, nur um feststellen zu müssen, dass das, was gerade noch so nah schien, im nächsten Moment unendlich weit weg ist.
Der Mount Everest setzt andere Maßstäbe. Er täuscht einen. Ich beginne, ein neues Gefühl für Zeit zu entwickeln. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, es gibt nur ein Jetzt. Atemzug um Atemzug, Schritt für Schritt. Jetzt. Die Yak-Männer kennen keine Uhren und keine Agenden. Wenn Russell dieses Jahr wieder abreist, wird er mit Karsang denselben Treffpunkt ausmachen wie jedes Jahr. Er wird sagen, ich bin in genau einem Jahr wieder da, warte an der Straße auf mich. Und Karsang wird – ohne zu wissen, welches Datum wir an diesem Tag schreiben – an der Straße stehen und warten. Auf den Tag genau.
Als ich erschöpft und durchfroren ins Basislager zurückkomme, gehe ich geradewegs ins Kochzelt, um zu trinken und auf das Essen zu warten. Ich bin froh, wieder im Lager zu sein, aber glücklich, 6350 Meter erreicht und meinen inneren Schweinehund überwunden zu haben.
Von nun an mache ich alle zwei Tage eine große Tour. Ein Tag Anstrengung, um schneller zu akklimatisieren, ein Tag Pause, um den Körper regenerieren zu lassen. So sieht mein Rhythmus aus.
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