Mami Staffel 2 – Familienroman. Gisela ReutlingЧитать онлайн книгу.
heimgesucht, dann vom Unwetter eingeholt und am Ende von der Bergwacht gefunden. Ist das nicht romantisch?«
»Nein! Wenn Thilo mir das eingebrockt hat, kann er noch heute seine Sachen packen. Dann ist er nicht mehr mein Bruder.«
»Aber Sepp! Warum denn?«
»Er hat unser Geheimnis verraten. Nur er wußte, daß ich einen Tag und eine Nacht mit dir allein verbringen wollte. Das verzeihe ich ihm nie.«
Sie fuhr ihm schmunzelnd durchs Haar. »Und wenn es Gritli war? Ihr wirst du doch nicht grollen?«
Sein Kopf zuckte hoch. »Gritli? Nein, die wär selbst losgerannt, wenn sie dich vermißt. Die kennt sich aus. Niemals würde Gritli die Bergwacht rufen.« Er lachte bitter. »Nein, es kann nur Thilo gewesen sein. Ich hätt ’s mir denken können. Verantwortungslos war er immer und ist es auch geblieben. Jetzt kommt noch der Neid auf unser Glück dazu. Er findet keine Arbeit und will verhindern, daß du als meine Frau mit auf dem Berghof lebst… Er hat immer wieder gesagt, für uns zwei Brüder mit Familien reicht das Einkommen nicht.«
»Und du nimmst wirklich an, deshalb verrät er unser Geheimnis?«
»Ein Mann, der aus Kummer über den Tod seiner Frau sein einziges Kind verläßt, der ist zu allem fähig. Und Agnes wird ihm noch dankbar sein. Er war ja immer ihr Liebling.«
Draußen ließ sich das Geräusch eines Geländewagens vernehmen. Etwas weiter entfernt dröhnte der Motor eines Hubschraubers. Sepp stöhnte laut und vernehmlich. Mit der Bergwacht kannte er sich aus. Die Leute hatten eine große Suchaktion gestartet. Die wurde erst abgeblasen, wenn Clara Baumbeer wieder sicher an ihrem Wohnort war. Recht mulmig wurde ihm bei dem Gedanken, wie Agnes das aufnehmen würde.
»Abendessen brauchen wir nicht mehr!« rief er ungehalten in den Raum.
»Und ein Kämmerchen für die Nacht leider auch nicht!« Clara strich ihrem Liebsten schmunzelnd über die kräftige, sonnenverbrannte Hand und hoffte, der finstere Ausdruck auf seinem Gesicht würde verschwinden. Aber diesmal täuschte sie sich. In Sepp gärte eine grenzenlose Wut auf seinen Bruder Thilo, diesen heimtückischen Verräter.
*
Auf dem halben Weg zum Berghof mußte Barbara sich zähneknirschend eingestehen, daß ihr Vater mal wieder recht behalten hatte: Sie kam mit ihrem Wagen keinen Meter mehr voran. Auf dem von herabrinnenden Wasser aufgeweichten Boden drehten ihre Räder durch, die Scheibenwischer wurden mit prasselnden Hagelkörnern nicht fertig. Als sie ordentlich Gas gab, soff ihr sogar der Motor ab. Sie nahm schließlich ihren ganzen Mut zusammen, ließ sich einige Meter tiefer rollen und wendete schlotternd vor Angst, um heimzufahren.
Ruppert stellte keine einzige Frage, als sie ihn um den geländegängigen Kombi bat.
»Gott mit dir!« verabschiedete er sie voller Zuversicht, obwohl er
im stillen befürchtete, sie würde auch diesmal wieder auf halber Strecke steckenbleiben. Aber Barbara schaffte es. Das konnte auch daran liegen, daß nach einem letzten, prasselnden Hagelschauer nur noch Regen herabrauschte und der Wind sich beruhigt hatte.
Die wenigen Meter zwischen Auto und Tür des Hofes reichten aus, um ihr Haar in tropfnasse Strähnen zu verwandeln. Barbara pochte heftig gegen die Tür. Ziemlich schnell wurde sie aufgerissen.
»Was wollen Sie schon wieder?« fragte Agnes Heimhofer feindselig.
Barbara bat höflich, Gritli, Thilo oder Sepp Heimhofer sprechen zu dürfen. Sie wollte für gute Stimmung sorgen, aber keineswegs wieder Ziegenmilch trinken. Nein, das war zuviel für diesen Tag!
»Nur das Gritli ist da und völlig durchnäßt. Sie hockt am Herd in der Küche. Hat sie wieder was ausgefressen?«
»Nein, nichts«, schwindelte Barbara mit unschuldigem Lächeln. »Ich habe nur einige Fragen an sie.«
Agnes ließ sie nicht gern eintreten. Der miefige Flur empfing Barbara wie ein düsterer Tunnel, an dessen Ende nur Ungemach warten konnte.
»Gritli war auf dem Felshorn. Ist wieder hoch bis über die Wolken«, murrte Agnes. »Dem Kind ist mit Vernunft nicht beizukommen.«
»Da haben Sie sich wohl Sorgen gemacht?«
»Ich mach mir keine Sorgen, das Gritli macht Ärger. Das reicht.«
Barbara blieben die Worte im Hals stecken, aber als sie Agnes in die Küche gefolgt war und Gritli mit angezogenen nackten Beinen auf der Bank neben dem Herd hocken sah, da wäre fast ein Wehschrei des Mitleids aus ihr herausgebrochen.
Oberhalb der halb aufgelösten Zöpfe standen Gritli die Haare wie zerrupfte Büschel weg und die hochgezogenen Schultern verrieten, wie gern sie den Kopf eingezogen hätte, um sich unsichtbar zu machen, wenn sie schon nicht mehr aufs Felshorn flüchten konnte.
Gritli sah sie an. Unter den Augen lagen dunkle Schatten, und ihre Lippen bebten nur, als nehme ihr die Furcht vor der Lehrerin die Kraft zum Sprechen.
»Ich bin nur hier, um…«, begann Barbara behutsam.
»Haben Sie… haben Sie Clara gesehen?«
»Wen?«
»Die Baumbeer ist unser Urlaubsgast«, erklärte die Großmutter. »Kommt aus der Stadt, ist aber dumm wie Bohnenstroh. Sie hat sich heute auf eine Wanderung gemacht. Gritli hat sie überall gesucht und ist immer noch ganz irre vor Angst, ihr könnte bei dem Wetter etwas geschehen sein. Um die ist es aber nicht schade, das sag ich Ihnen, Frau Lehrerin. Wenn sie irgendwo herunterstürzt, ist das eine Fügung Gottes, die ihr hoffentlich die Augen öffnet. Sie wissen doch, die Fremden und besonders die aus der Stadt, die bilden sich ein, auf den höchsten Gipfel steigen zu können. Die haben keinen Respekt vor der Natur, nicht vor dem Wetter und auch nicht vor unsereins, die sich auskennen. Die lachen doch über uns!«
Barbara sah Gritli unentwegt an. Sie trug nur ein Hemd und einen Schlüpfer, und weil sie entkräftet war, wärmte sie das Feuer im Herd auch nicht mehr.
»Du hast sie gesucht? Bis aufs Felshorn rauf?«
Gritli brachte keinen Mucks hervor.
»Mehr als vier Stunden war sie unterwegs«, schimpfte die Großmutter. »An der Ludwigshöh ist so ein Kiosk für Getränke und Brezen. Da hat sie darum gebeten, die Bergwacht zu alarmieren. Stellen Sie sich vor! So vernarrt ist das Kind in diese Verrückte aus der Stadt, daß sie gleich nach der Schule losgezogen ist, um sie zu suchen. Kein Wort hat sie mir gesagt. Ts! Ts! Die Bergwacht rufen…! Das hat noch keiner von den Heimhofers notwendig gehabt.«
»Und Ihr Sohn Sepp?«
»Der ist im Holz oben. Dem macht das Wetter nichts. Aber die Baumbeer wird’s mir büßen.«
»Was wird sie büßen?«
Wortlos hob Agnes Heimhofer ein Regenmäntelchen hoch. Es sah sehr neu aus, nur teilte den Rücken ein scharfer Riß. Dann zeigte sie ihr noch Gritlis Schuhe, die wohl ziemlich neu waren. An einem klaffte schon eine gelöste Sohle, das konnte sogar der Schmutz nicht verdecken.
»Thilo hat seinem Kind neue Sachen gekauft. Die sind hin. Die Baumbeer soll ’s ersetzen. Geld hat so eine ja!«
So war das also. Thilo Heimhofer hatte seiner Tochter Kleidung und neue Straßenschuhe gekauft! Barbara atmete auf. Nein, er war nur frech, aber kein Unmensch.
»Haben Sie Clara wirklich nicht gesehen?« bibberte Gritli.
»Nein. Ich habe sie ja auch nicht gesucht. Aber jetzt sehe ich, daß du dir gleich einen Schnupfen holst, wenn du nicht was Trockenes auf den Leib bekommst.«
»Keiner bekommt hier Schnupfen, Frau Lehrerin! Und für den Leichtsinn der Baumbeer ist die Bergwacht jetzt zuständig. Eine Stange Geld wird ’s kosten, wenn sie feststellen, daß sie nicht mal gute Bergstiefel trägt«, fuhr die Großmutter fort und zupfte an Gritlis nassen Sachen, um sie von der anderen Seite von der Herdwärme trocknen zu lassen.
»Sie hat doch Bergstiefel, Großmutter«, protestierte Gritli. »Die von meiner Mami vom Speicher. Der Sepp