Perry Rhodan Neo Paket 1: Vision Terrania. Hubert HaenselЧитать онлайн книгу.
geschaffen. Sie standen dicht an dicht beieinander, bildeten einen Kreis. Ausnahmslos, stellte Marshall mit einem geübten Blick fest. Sie waren aus ihren Zimmern gekommen, aus der Werkstatt, aus der Küche, aus dem Garten hinter dem Haus.
»Was ist hier los?«, rief Marshall.
Marshall hob niemals die Stimme, geschweige denn, dass er gebrüllt hätte. Aus gutem Grund: Er sparte sich die laute Tonlage für Gelegenheiten wie diese auf. Wenn es um alles ging.
Im Kreis der Kinder entstand eine Lücke, breit genug für Marshall und Sue, die einen Schritt schräg hinter ihm stehenblieb. Sue wusste zu gut um ihre Zerbrechlichkeit, um ein unnötiges Risiko einzugehen. Sie hatte ihren Armstumpf aus dem Ärmel gezogen, drückte ihn unter dem T-Shirt eng an den Körper, als handle es sich dabei um ein unsagbar wertvolles, zerbrechliches Gut.
Zwei Schwarze standen in der Mitte des Kreises. Sie waren muskulös, einen Kopf größer noch als Marshall, der als hochgewachsen galt. Die beiden Schwarzen umkreisten einander breitbeinig und federnd, zum Sprung bereit. Sie belauerten einander, suchten nach der Gelegenheit zuzustechen. In den Händen hielten sie Messer.
Sie wirkten wie Spiegelbilder.
Damon und Tyler. Die Zwillinge. Eben fünfzehn geworden; Kinder, die in den Körpern von Erwachsenen steckten.
Die Zwillinge schenkten Marshall keine Beachtung. Sie waren ganz aufeinander fixiert. Und sie wussten, dass sie stärker waren als Marshall. Er konnte sie nicht daran hindern, einander umzubringen.
Sue lag Marshall schon lange in den Ohren, Damon und Tyler aus dem Shelter zu werfen. Das Mädchen, das im Körper eines Kleinkinds steckte, vor fünfzehn Jahren geboren und auf der Straße lange vor ihrer Zeit gereift, hatte Angst vor den Zwillingen, die sich an keine Regeln hielten und immer drauf und dran waren zuzuschlagen.
Sie brachten Unruhe in den Shelter. Tickende Zeitbomben, hatte Sue ihn gewarnt. Damon und Tyler hätten ein Versteck. Sue wusste nicht, wofür. Die Zwillinge horteten etwas, wahrscheinlich Drogen.
Marshall hatte die Jungen trotzdem im Shelter behalten. Draußen hätten Damon und Tyler kein halbes Jahr überlebt. Die Gangs in Sugar Land warteten auf Jungs wie sie. Perfekte Rekruten. Innerhalb von zwei Wochen hätte man sie zu Dealern gemacht, innerhalb von drei Monaten zu Killern – und danach war es nur eine Frage der Zeit, bis ein anderer Killer schneller war als sie.
Marshall wollte ihren Tod nicht auf dem Gewissen haben. Er glaubte, dass in den Zwillingen Gutes steckte. Irgendwo, tief verschüttet, doch es existierte. Er musste ihnen nur die Chance geben, es zu entdecken.
»Ich habe gefragt, was hier los ist!«, wiederholte Marshall.
Keine Antwort.
Sue zupfte an seinem Hemd. Marshall folgte der Richtung, die ihr Blick ihm vorgab.
Tylers Hals. Er war nackt. Der Glücksbringer fehlte.
»Wo ist dein Amulett, Tyler?«, fragte Marshall.
Diesmal reagierte der Junge. »Er hat es gestohlen!« Tyler blickte seinen Bruder aus vor Wut sprühenden Augen an, zeigte mit der Klinge des Messers auf ihn.
Das Amulett war Tylers wichtigster Besitz auf der Welt. Der Heilige Christophorus, der das Jesuskind über den Fluss trägt. Billiger Plastiktand, von dem die Farbe abblätterte. Tyler hatte es in einer Mülltonne gefunden, lange bevor er in den Shelter gelangt war. Der Heilige, glaubte der Junge, war an seiner Seite, geleitete und schützte ihn.
Ein unsinniger Glaube in Marshalls Augen, der weder an Heilige noch an Götter glaubte. Aber weit verbreitet. Jedes der Kinder hatte irgendetwas: ein Amulett, einen Ring, eine Hasenpfote, eine alte Münze, an dem es sich festhielt. Oder, wie Sid mit der Raumfahrt, eine fixe Idee.
»Er lügt!«, schrie Damon. »Ich habe seinen blöden Heiligen nicht!«
»Du hast ihn! Er ist weg!«
»Wieso glaubst du, dass dein Bruder das Amulett gestohlen hat?«, schaltete sich Marshall ein. Die Zwillinge hatten ihr Schweigen gebrochen. Jetzt musste er sie am Reden halten. »Tyler, kann es nicht sein, dass du dein Amulett verlegt hast?«
»Ich lege es nie ab!«
»Und jetzt ist es verschwunden, das macht dir Sorge«, schloss Marshall. »Das verstehe ich. Aber wie kommst du darauf, dass ausgerechnet dein Bruder es dir gestohlen hat?«
»Weil er neidisch auf mein Amulett ist! Schon immer!«
»Bin ich nicht!«, schrie Damon.
Hätte John Marshall die Augen geschlossen, er hätte geglaubt, zwei Schüler vor sich zu haben, die sich über ein verlorenes Sammelbild stritten. Doch das hier war keine Kleinigkeit. Marshall konzentrierte sich, horchte in sich hinein. Er spürte die Verletzungen der beiden Jungen, die niemals in ihrem Leben geliebt worden waren. Er spürte ihre unstillbare Wut, die sie immer wieder dazu trieb, andere zu verletzen. Sie war nahezu übermächtig, trieb Marshall Tränen in die Augenwinkel. Und sie war unmissverständlich: Fand er nicht rasch eine Lösung, würde es zu einem Totschlag kommen.
»Gib es wieder her, Damon!«
»Ich habe dein bescheuertes Amulett nicht!«
»Lügner!«
Tyler schnellte vor. Sein rechter Arm zuckte nach vorne. Damon wollte ausweichen, aber es misslang. Die Klinge traf seinen Oberarm, schnitt in das Fleisch.
Es war, als hätte die Klinge auch Marshall getroffen. Er stöhnte auf, seine rechte Hand fuhr an den Oberarm, in den sich der Schmerz einbrannte, tastete über die Wunde, die keine war. Wut stieg in Marshall auf. Tylers Wut über den Verlust seines Glücksbringers. Damons Wut auf seinen Bruder, der ihn zu Unrecht beschuldigte, der ihn verletzt hatte. Schließlich war da Marshalls eigene Wut, der nur das Beste für die Kinder wollte und an ihnen und seinem Vorhaben verzweifelte.
Marshalls Wahrnehmung verschwamm. Das Gejohle der Kinder wurde zu einem Hintergrundgeräusch, ähnlich wie das Brummen des Verkehrs des Southwest Freeways, der im Süden des Shelters verlief. Sues besorgter Aufschrei kam aus weiter Ferne, als wäre er ein Echo. Die Welt drehte sich plötzlich um Marshall, schneller und schneller und ...
... und plötzlich hielt sie an. Marshall fand sich an einem anderen Ort wieder. Eine Halle, ein Dutzend Werkbänke, der Duft von Schmieröl. Die Werkstatt des Shelters.
Marshall war Tyler.
Der andere Tyler. Der Junge, der in seiner Arbeit aufging. Stundenlang selbstversunken die herrenlosen Fahrräder reparierte, die einmal die Woche ein Laster der Stadtverwaltung zum Shelter brachte.
Er, Tyler, beugte sich über eine Felge. Ein gezielter Fußtritt hatte sie verbogen. Er, Tyler, spürte den Schmerz, der in dem Aluminium eingefangen war. Vorsichtig löste er das Rad aus der Gabel. Es klemmte. Er beugte sich vor, griff die Enden der Achse mit beiden Händen und zog. Sie klemmte. Er zog ein zweites Mal. Stärker.
Er bemerkte nicht, wie die lederne Schnur, an der sein Amulett hing, sich in dem Haken verfing, der dazu diente, Fahrradrahmen in die passende Höhe zu ziehen. Er bemerkte nicht, dass mit demselben Ruck, der das Rad aus der Gabel löste, die lederne Schnur riss. Dass das Amulett fiel, zwischen die rostigen Ausschussteile rutschte, die sich neben ihm auftürmten ...
Marshall riss die Augen auf, kehrte zurück in den Saal. »Tyler!«
Etwas in seiner Stimme ließ den Jungen aufhorchen.
»Tyler, einen Augenblick! Ja?«
Der Junge sagte nichts. Aber er blieb stehen, versuchte nicht, seinen blutenden Bruder zu überwältigen.
Marshall drehte sich um, ging in die Knie, um auf Augenhöhe mit Sue zu sein. »Geh in die Werkstatt!«, flüsterte er ihr zu. »Die Ausschussteile an Tylers Platz. Sein Amulett ist unter den Teilen!«
»Woher ... woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach. Und jetzt los! Renn!«
Sue rannte los. Lange Minuten vergingen. Die Kinder waren still. Manche starrten