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Der Spürsinn des kleinen Doktors. Georges SimenonЧитать онлайн книгу.

Der Spürsinn des kleinen Doktors - Georges  Simenon


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Er nahm eine heraus, den mildesten Aperitif, fand ein Glas und trank einen großen Schluck.

      Es war die dritte Überraschung des Tages. Was war das für ein Geschmack? Es war absurd, niemand würde doch auf die Idee kommen …

      Aber es gab keinen Zweifel. Er trank noch einen Schluck und wusste, hier bedurfte es keiner Analyse. Jemand hatte tatsächlich doppeltkohlensaures Natron in Wermut aufgelöst!

      Was war in dem Glas gewesen, das auf dem Tisch neben der Couch stand? Er roch daran. Wermut!

      Wie konnte jemand so verrückt sein, doppeltkohlensaures Natron, das harmloseste aller Medikamente, das nur bei leichten Magenschmerzen hilft, in einem Aperitif aufzulösen?

      »Hallo! Es muss doch jemand hier sein!«, rief der kleine Doktor aufgebracht.

      Nur die Katze im Garten beobachtete ihn durchs Fenster, und schließlich setzte sich Jean Dollent ganz selbstverständlich auf den Rand der Couch.

      Erstens: Da man sich die Mühe gemacht hatte, ihn anzurufen, ihn gebeten hatte, sofort zu kommen, brauchte man ihn hier wohl dringend.

      Aber es war niemand da, der seine Hilfe benötigte.

      Zweitens: Um diese Zeit hatte man nur von La Rochelle aus telefonieren können, das zehn Kilometer entfernt lag. Drouin hatte kein Auto, nicht einmal ein Fahrrad, und der letzte Bus war um acht Uhr morgens durchs Dorf gekommen. War Drouin die zehn Kilometer gelaufen? Hatte seine Geliebte ihn begleitet?

      Drittens: Nur eine Person hatte in dieser Nacht auf der Couch geschlafen, und zwar die junge Frau, denn auf dem Kopfkissen lag ein langes blondes Haar.

      Viertens: Nirgends eine Spur, dass man gefrühstückt hatte. Es war schwer vorstellbar, dass sie beim Aufstehen Wermut mit doppeltkohlensaurem Natron getrunken hatte. Das wäre der Gipfel der Absurdität gewesen.

      Der kleine Doktor merkte gar nicht, dass er im Begriff war, eine Untersuchung durchzuführen, und dass diese Untersuchung geradezu beängstigend einer polizeilichen ähnelte.

      Warum hatte man ihn kommen lassen? Um wen zu behandeln?

      Es sei denn … Er runzelte die Stirn, denn dieser Gedanke veränderte alles … War es vielleicht unbedingt nötig gewesen, dass irgendjemand in die Maison-Basse kam? … Die Leute im Dorf hatten kein Telefon. Und mittags hätte man dort ohnehin nicht telefonieren können. Und was sollte man ihnen sagen? Warum sollten sie sich herbemühen? Während ein Arzt … Er ist der Einzige, der immer kommt, wenn man ihn ruft. Der moralisch dazu verpflichtet ist …

      Aber warum?

      Die Kühle war köstlich, es herrschte tiefer Friede. Das nächste Haus, der Hof von Renard, der wegen einer Wirbelentzündung bei Dollent in Behandlung war, lag mehr als sechshundert Meter entfernt. Nur die Fliegen brachten ein wenig Leben in die Stille.

      Plötzlich … Er stand auf, ging zu einer alten Kommode, unter der er etwas bemerkt hatte. Er bückte sich und zog ein Paar Sandalen hervor, an deren Sohlen feuchte Erde klebte.

      Und das war erstaunlicher als alles andere, denn es hatte wochenlang nicht geregnet, und die Gräben waren schon seit einer Ewigkeit ausgetrocknet.

      Wo hatte Drouin seine Sandalen so beschmutzen können? Nicht an der Küste, denn die Erde am Ufer zwischen den Kieselsteinen war fast weiß, extrem kalkig, und das hier war die gute braune Erde der Wiesen oder Felder.

      Machte sich Dollent nicht lächerlich? War es nicht besser, nach Hause zurückzufahren, wo Anna, seine Haushälterin, ein köstlich duftendes Hammelragout gekocht hatte?

      Der Wermut mit dem doppeltkohlensauren Natron hatte seinen Durst nicht gelöscht, und er nahm eine andere Flasche aus der Anrichte, ein Aperitif mit Anisgeschmack. Er kostete ihn. Keine Arznei, kein doppeltkohlensaures Natron. Er goss sich ein Glas voll und ging dann hinaus.

      Das Haus bestand aus fünf oder sechs Zimmern, alle zu ebener Erde. Es war ein ehemaliges Bauernhaus, und die Drouins – konnte man sie so nennen? – hatten es nur spärlich möbliert, es mit bunten Stoffen, Möbeln aus unbehandeltem Holz, Regalen wohnlich gemacht; das Ganze erinnerte an die Ateliers in Montparnasse. An einem Nagel hing sogar eine recht hübsche Hawaiigitarre, die wohl auch gespielt wurde, denn es fehlte keine Saite, und sie war gestimmt.

      Wo hatte Drouin nur …

      Und da ging der kleine Doktor, statt wieder in seinen Wagen zu steigen, um das Haus herum, gefolgt von der Katze, die hin und wieder einen Buckel machte und sich an seinen Beinen rieb. In dem Stück Garten hinter dem Haus war die Erde genauso trocken wie überall hier. Er beugte sich über den Brunnen: kaum fünfzig Zentimeter klares Wasser, durch das man die Kiesel hindurchschimmern sah.

      Das Dorf schien sehr fern und die Landschaft unendlich weit. Kühe lagen auf den sumpfigen Wiesen und dösten vor sich hin.

      Dabei fiel ihm etwas ein … Aber welcher Zusammenhang bestand zwischen dem Schlafmittel, das er Drouin verschrieben hatte, und …

      Eine niedrige, vertrocknete Hecke. Er wäre beinahe weitergegangen. Dann bückte er sich doch. Die Erde auf einer kleinen Fläche jenseits der Hecke sah anders aus, nämlich so, als wäre sie umgegraben worden. Er stieg über die Hecke, hob einen losen Erdklumpen auf, fand darunter lockere feuchte Erde, genau wie die, die an den Sandalen im Haus klebte.

      Aber was ging ihn das an? Wenn ihm etwas verdächtig erschien, brauchte er es nur auf dem Bürgermeisteramt in Esnandes zu melden, wo man die Gendarmerie benachrichtigen würde. Er war Arzt und weiter nichts.

      Aber warum, zum Teufel, hatte man ihn kommen lassen? Um was zu entdecken?

      Er war sicher, Drouins Stimme am Telefon erkannt zu haben. Wenn Drouin ihn also um fünf Minuten vor halb eins angerufen hatte …

      Er sah auf seine Uhr. Es war schon eins, und Anna wurde gewiss bereits ungeduldig. Trotzdem ging er zurück zum Haus, öffnete ein paar Türen, entdeckte schließlich einen Werkzeugschuppen und ergriff dort einen Spaten.

      Er dachte an das Haar auf dem Kopfkissen, an die junge Frau, die nie ausging und eine Atmosphäre überschwänglicher Leidenschaft um sich verbreitete.

      Er zog seine Jacke aus. Die Erde war locker, er schippte ein paar Schaufeln heraus, dann …

      Er hatte während seines Medizinstudiums viele Leichen seziert. Trotzdem, als er jetzt plötzlich diesen Finger aus der Erde auftauchen sah …

      Er war bestürzt: Es war der Finger eines Mannes. Er grub weiter, grub die ganze Hand aus, eine ungepflegte Pranke.

      Drouin? Nein, das war nicht möglich, denn er hatte telefoniert. Und wenn nun jemand seine Stimme imitiert hatte?

      Aber jemand wie Drouin, der eine natürliche Vornehmheit besaß, was dem kleinen Doktor sofort aufgefallen war, hatte nicht solche Hände …

      Nun, es half nichts, mit einem Fußtritt verjagte er die Katze, die laut miaute, dann grub er weiter und entdeckte schließlich ein von Erde und Blut verschmiertes Gesicht.

      Wenn man ihn später fragte, was er dabei empfunden habe, würde er antworten:

      »Überhaupt nichts, oder vielmehr, ich war wie vor den Kopf geschlagen …«

      Und wirklich, er war wie vor den Kopf geschlagen, als er dort stand, allein zwischen Himmel und Erde, allein in einer unendlichen Weite, vor einem Loch, aus dem er nach und nach eine männliche Leiche ausgrub.

      Am meisten erstaunte ihn, dass er diesen Menschen nicht kannte, ihn bestimmt niemand in der Gegend kannte.

      Später, in seiner großen Zeit, würde er sagen:

      »Er hatte eine widerliche Visage!«

      Und das stimmte. Ein dickes, aufgedunsenes Gesicht, der Mund durch eine Hasenscharte entstellt.

      Die Hitze … Aber ja! Es war die Hitze, nicht der Ekel. Er ging ins Haus zurück und goss sich einen zweiten und dann einen dritten Pernod ein.

      »Warum, zum Teufel, hat man mich angerufen?«

      Diese


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