Gesammelte Werke. Джек ЛондонЧитать онлайн книгу.
Er hob ihn auf, obgleich sein Gewicht fast zu schwer für seine schwachen Finger war. Bill hatte das Gold also bis zum letzten mitgeschleppt. Ha, ha … Jetzt konnte er den guten Bill auslachen! Er allein blieb am Leben und brachte den Beutel mit dem Golde zu dem Schiff in der schimmernden See. Sein Lachen war heiser und gespensterhaft; es klang wie das Krähen eines Raben, und der Wolf schloss sich ihm an und begann melancholisch zu heulen. Der Mann hörte plötzlich auf zu lachen. Wie konnte er über Bill lachen – falls es wirklich Bill war –, wenn diese Knochen, die so rosig und so sauber abgenagt aussahen, tatsächlich die Knochen Bills waren.
Er wandte sich ab. Gut, Bill hatte ihn schmählich im Stich gelassen. Aber dennoch wollte er das Gold nicht nehmen und auch nicht an Bills Knochen saugen! Bill würde es freilich getan haben, wenn die Lage die umgekehrte gewesen wäre, überlegte er, während er weiterhumpelte.
Er gelangte zu einem größeren Tümpel. Als er sich darüber beugte, um nach Elritzen zu sehen, riss er seinen Kopf schnell zurück, als ob er gestochen worden wäre. Er hatte sein eigenes Spiegelbild im Wasser gesehen. So grässlich war es, dass seine Empfindsamkeit, die sonst eingeschlafen war, lange genug wach blieb, um einen furchtbaren Eindruck auf ihn zu machen. Es waren drei Elritzen im Tümpel, der indessen zu groß war, um ihn trockenlegen zu können. Und nachdem er verschiedene vergebliche Versuche gemacht hatte, sie zu fangen, verzichtete er darauf. Er hatte nämlich Angst, dass er infolge seiner schrecklichen Erschöpfung selbst hineinfallen und ertrinken könnte. Und aus demselben Grunde wagte er es auch nicht, sein Leben dem Fluss anzuvertrauen, obgleich er sonst auf einem der vielen Stämme, die mit der Strömung trieben, den Strom hätte hinabreiten können.
An diesem Tage verringerte sich die Entfernung zwischen ihm und dem Schiffe um drei Meilen, am nächsten nur um zwei – denn jetzt kroch er auf allen vieren, wie Bill es getan. Und als der fünfte Tag vergangen war, befand er sich noch sieben Meilen vom Schiff entfernt und war sich darüber klar, dass er höchstens eine Meile am Tage zurücklegen konnte. Der Spätsommer dauerte immer noch an, und er kroch abwechselnd und ruhte sich erschöpft aus. Und die ganze Zeit hindurch hustete und ächzte der kranke Wolf hinter ihm her. Allmählich waren auch seine Knie zu blutigen Fleischklumpen wie die Füße geworden, und obgleich er ein Stück von seinem Hemd abriss und sie damit verband, hinterließ er doch eine rote Fährte auf Moos und Steinen. Als er einmal einen Blick zurückwarf, sah er, wie der Wolf gierig die blutigen Spuren ableckte, und erkannte klar und deutlich, wie es ihm ergehen würde … wenn … ja, wenn er nicht selbst den Wolf erwischte. Dann begann eine so grauenhafte Tragödie des Lebens, wie sie je gespielt worden ist: Ein kranker Mann, der auf allen vieren kriecht, ein kranker Wolf, der hinterher humpelt. Zwei sterbende Geschöpfe, die ihre fast leblosen Körper durch die Einöde schleppen und sich gegenseitig nach dem elenden Rest von Leben trachten.
Wäre es ein gesunder Wolf gewesen, es hätte den Mann gar nicht so gestört. Aber der Gedanke, dass er Futter für den Magen dieses ekligen und fast schon verreckten Geschöpfes werden würde, stieß ihn ab. Seine Gedanken begannen wieder weite Wege zu wandeln. Halluzinationen überwältigten ihn, und die Augenblicke klaren Bewusstseins wurden immer kleiner.
Ein Schnaufen dicht neben seinem Ohr weckte ihn aus einer Ohnmacht. Es war der Wolf, der jetzt ungeschickt zurücksprang, dabei das Gleichgewicht verlor und erschöpft hinfiel. Es sah lächerlich aus, aber der Mann war nicht in der rechten Stimmung, sich darüber zu amüsieren. Ebensowenig empfand er irgendwelche Angst. Das Stadium der Furcht hatte er hinter sich. Aber sein Gehirn war wieder klar geworden, und er blieb liegen und überlegte. Das Schiff war nur vier Meilen entfernt. Er konnte es ganz deutlich sehen, wenn er sich den Nebel aus den Augen rieb, und er sah auch die weißen Segel eines kleinen Bootes, welches das Wasser des schimmernden Sees durchschnitt. Er wusste indessen, dass er nie imstande sein würde, diese letzten vier Meilen zu kriechen. Und doch war er trotz dieses verhängnisvollen Wissens – vollständig ruhig … Er wusste sogar, dass er nicht einmal eine halbe Meile zu kriechen vermochte. Und dennoch wünschte er, am Leben zu bleiben. Es schien ihm ganz irrsinnig, sterben zu wollen, nachdem er so viel ausgehalten hatte. Das Schicksal stellte zu große Ansprüche an ihn. Und selbst jetzt; da er dem Tode nahe war, wollte er nicht sterben. Es war freilich der reine Wahnsinn, aber dennoch verachtete er den Tod noch in dem Augenblick, da er ihn am Kragen packte. Er weigerte sich, zu sterben.
Er schloss die Augen und legte sich mit unendlicher Vorsicht zurecht. Er nahm sich zusammen, um nicht in die quälende Ohnmacht zu sinken, die wie eine steigende Flut alle Quellen seines Wesens überschwemmte. Es war fast wie das Meer, dieses tödliche Ohnmachtsgefühl, das immer stieg und stieg und Stück für Stück sein Bewusstsein verschlang. Zuweilen tauchte er vollkommen darin unter und schwamm mit unsicheren Schlägen durch das große Vergessen. Und dann gelang es ihm dank irgendeinem seltsamen Element seiner Seele immer wieder, einen neuen Streifen von Willen zu finden, sodass er wieder mit stärkeren Zügen weiterschwimmen konnte.
Unbeweglich blieb er auf dem Rücken liegen. Er konnte den Atem des Wolfes hören, der sich langsam näher schlich. Immer näher kam das Tier, immer näher, obgleich es eine Ewigkeit dauerte. Aber er rührte sich nicht. Jetzt war der Wolf an seinem Ohr. Die raue trockene Zunge rieb wie Sandpapier die Haut seiner Wange. Seine Hände stießen hin – oder jedenfalls wollte er, dass sie hinstießen. Die Finger waren gekrümmt wie die Krallen eines Raubvogels – aber sie schlossen sich nur um die leere Luft. Schnelligkeit und Entschluss erfordern Stärke, und der Mann, der hier am Boden lag, besaß keine mehr.
Die Geduld des Wolfes war erschütternd. Aber die des Mannes war nicht weniger unheimlich. Einen halben Tag blieb er unbeweglich liegen, überwand die Bewusstlosigkeit, die sich an ihn heranschlich, und wartete auf dies Geschöpf, das sich an ihm sättigen wollte – und an dem er sich zu sättigen entschlossen war. Hin und wieder quoll die Woge der Ohnmacht über ihn herein, und er träumte lange Träume. Aber stets – ob wachend oder träumend – wartete er auf das Schnaufen des Tieres und die raue Liebkosung der Zunge.
Er hörte nicht einmal das Atmen des Tieres und glitt nur langsam aus irgendeinem Traum auf, um die Zunge an seiner Hand zu spüren. Er wartete immer noch. Die Pfoten begannen leise zuzudrücken, und der Druck wurde stärker … Der Wolf spannte seine letzten Kräfte an, um die Zähne in die Beute zu setzen, auf die er so lange gewartet hatte. Aber auch der Mann hatte lange gewartet, und die eine erschöpfte Hand schloss sich um den Kiefer. Der Wolf konnte nur schwach kämpfen, aber die Hand hatte auch nicht viel Kraft. Deshalb gelang es der anderen Hand nur sehr schwerfällig und langsam, sich zu einem zweiten Griff zu heben. Fünf Minuten darauf ruhte das ganze Gewicht des Mannes auf dem Vorderteil