Gesammelte Werke: Kriminalromane + Detektivgeschichten + Historische Romane. Arthur Conan DoyleЧитать онлайн книгу.
wurde.«
»Ich habe geglaubt, alle übrigen Kleider seien im Zimmer vorgefunden worden. Sollte der Körper nur allein mit dem Rocke bekleidet gewesen sein?«
»Nein, gewiß nicht, aber die Tatsachen lassen doch eine ziemlich glaubwürdige Erklärung zu. Vorausgesetzt, dieser Boone habe St. Clair aus dem Fenster geworfen, ohne daß ein menschliches Auge es sah – was hätte er dann vor allem tun müssen? Natürlich sich in erster Linie der verräterischen Kleider entledigen. Er griff also nach dem Rocke; im Begriff, diesen hinauszuwerfen, fiel ihm aber ein, daß er ja schwimmen würde, anstatt unterzusinken. Die Zeit drängt, denn von unten her hört er die Stimme der Frau St. Clair, die hinaufdringen will; vielleicht hat ihm auch sein Spießgeselle, der Wirt, schon einen Wink gegeben, daß die Polizei nicht fern sei. Kein Augenblick ist zu verlieren. Er eilt zu irgend einem geheimen Winkel, wo er die Erträgnisse seines Bettels aufgestapelt hat, und stopft so viele Münzen, als ihm zur Hand sind, in den Rock, damit dieser gewiß untersinkt. Schnell wirft er ihn hinaus, wie er es auch mit den anderen Kleidungsstücken gemacht hätte, wären nicht Schritte genaht, so daß ihm nur noch Zeit blieb, das Fenster zu schließen.«
»Dies klingt allerdings nicht unmöglich.«
»So laß uns einstweilen auf diesen Voraussetzungen fußen, bis sich Besseres findet. Boone wurde also, wie ich dir schon erzählt habe, festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht, doch konnte nicht nachgewiesen werden, daß schon früher etwas gegen ihn vorgelegen hätte. Seit Jahren war er als gewerbsmäßiger Bettler bekannt, schien aber sonst ein stilles, unbescholtenes Leben geführt zu haben. So weit ist die Sache bis jetzt gediehen, und die Fragen, die einer Lösung harren, nämlich was Neville St. Clair in der Opiumhöhle zu schaffen gehabt hat, was dort mit ihm geschehen ist, wo er sich jetzt befindet, und inwiefern Hugo Boone an seinem Verschwinden beteiligt war – alle diese Fragen sind noch so weit als je von einer Lösung entfernt. Ich muß dir gestehen, daß mir in meiner ganzen Erfahrung nie ein Fall vorgekommen ist, der auf den ersten Anblick so einfach erschienen wäre und dennoch solche Schwierigkeiten geboten hätte.«
Während mir Sherlock Holmes die sonderbare Verwicklung dieser Umstände im einzelnen darlegte, waren wir an den letzten Vorstadthäusern vorübergerollt und hatten jetzt grüne Hecken zu beiden Seiten. Als er eben am Schlusse war, fuhren wir durch zwei verstreut liegende Dörfer, wo aus manchem Fenster noch Licht schimmerte.
»Jetzt nähern wir uns Lee«, sagte Holmes; »auf unserer kurzen Fahrt haben wir nicht weniger als drei Grafschaften berührt. In Middlesex brachen wir auf, kamen durch einen Zipfel von Surrey und beschließen die Fahrt jetzt mit Kent. Siehst du das Licht dort zwischen den Bäumen hervorschimmern? Das kommt von ›den Cedern‹, und neben jener Lampe sitzt eine Frau, deren angstvolles Ohr ohne Zweifel schon den Hufschlag unseres Pferdes vernommen hat.«
»Aber warum betreibst du die Angelegenheit nicht von der Bakerstraße aus?« fragte ich.
»Weil allerlei Erkundigungen von hier aus einzuziehen sind. Frau St. Clair hat mir in entgegenkommendster Weise zwei Zimmer zur Verfügung gestellt, und du darfst überzeugt sein, daß sie meinen Freund und Kollegen gleichfalls freundlich willkommen heißen wird. Es ist mir im Innersten zuwider, Watson, ihr ohne Nachrichten über ihren Mann entgegentreten zu müssen. So, jetzt wären wir da! Hollah, he!«
Wir hielten vor einer großen, von Gärten umgebenen Villa. Ein Stalljunge war herbeigeeilt und hielt das Pferd. Wir stiegen aus, und ich folgte Holmes auf dem schmalen, geschlängelten Kiesweg, der zum Hause führte. Als wir näher kamen, flog die Türe auf, und eine kleine blonde Frau stand auf der Schwelle. Sie war in ein leichtes, an Hals und Ärmeln mit Spitzen verziertes Seidengewand gehüllt. Ihre Gestalt zeichnete sich in dem starken Lichtstrom, der aus der Türe quoll, deutlich ab, und wie sie so dastand, den Körper leicht vorgebeugt, die eine Hand auf der Türklinke, die andere halb erhoben vor Sehnsucht und Verlangen, das Gesicht mit den forschenden Augen und den halbgeöffneten Lippen nach vorne gewandt, sah sie ganz so aus wie ein lebendig gewordenes Fragezeichen.
»Nun, und was gibt’s?« rief sie. Und sobald sie bemerkte, daß wir zu zweien waren, kam es wie ein Ausruf der Hoffnung von ihren Lippen, der aber in einem Seufzer erstarb, als mein Gefährte den Kopf schüttelte und die Achseln zuckte.
»Keine guten Nachrichten?«
»Überhaupt keine.«
»Also auch keine schlechten?«
»Nein.«
»Gott sei Dank. Doch treten Sie ein. Sie müssen müde sein nach diesem langen Tag.«
»Hier stelle ich Ihnen meinen Freund, Herrn Dr. Watson, vor. Er ist mir schon bei verschiedenen Angelegenheiten von Nutzen gewesen, und ein glücklicher Zufall hat es gefügt, daß es mir möglich wurde, ihn mitzubringen und ihn mit unserer Sache vertraut zu machen.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte sie und drückte mir herzlich die Hand, »nur bitte ich um Entschuldigung, wenn heute mein Haus manches zu wünschen übrig läßt, Sie wissen ja, welcher harte Schlag uns so unvermutet betroffen hat.«
»Ich bin ein alter Soldat, gnädige Frau, und wäre ich es auch nicht, so würde ich es doch für selbstverständlich halten, daß es hier keinerlei Entschuldigung bedarf. Wenn ich Ihnen oder meinem Freunde irgendwie nützlich sein könnte, so würde ich mich glücklich schätzen.«
»Nun, Herr Sherlock Holmes«, begann die Dame, als wir das hell erleuchtete Speisezimmer betraten, wo ein kalter Imbiß bereit stand, »möchte ich Sie geradeheraus etwas fragen, und Sie sollen mir dann ebenso darauf antworten.«
»Ganz einverstanden, gnädige Frau!«
»Nehmen Sie keine Rücksicht auf meine Empfindungen. Ich bin weder hysterisch, noch leicht zu Ohnmachten geneigt. Es ist mir einzig und allein um Ihre aufrichtige Meinung zu tun.«
»Worüber?«
»Glauben Sie im Innersten Ihres Herzensgrundes, daß Neville noch am Leben ist?«
Diese Frage schien Sherlock Holmes in Verlegenheit zu setzen. »Also geradeheraus!« wiederholte sie. Er lag in einem Armstuhl, und sie stand vor ihm und sah forschend auf ihn nieder.
»Nun denn, ehrlich gestanden, gnädige Frau, nein.«
»Glauben Sie, daß er tot ist?«
»Ja, ich glaube es.«
»Ermordet?«
»Das will ich nicht behaupten, vielleicht.«
»Und an welchem Tage soll er vom Tode ereilt worden sein?«
»Am Montag.«
»Dann, Herr Holmes, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu erklären, wie es geschehen konnte, daß ich heute einen Brief von ihm erhielt.«
Sherlock Holmes sprang wie elektrisiert von seinem Stuhle auf.
»Was!« schrie er.
»Jawohl, heute.« Lächelnd stand sie da und hielt ein Blättchen Papier empor.
»Darf ich es lesen?«
»Gewiß.«
Er riß ihr den Brief aus der Hand, glättete ihn auf dem Tisch, zog die Lampe näher und besichtigte ihn aufs genaueste. Auch ich war aufgestanden und blickte ihm über die Schulter. Der Briefumschlag war aus grobem Papier und trug den Poststempel von Gravesend mit dem Datum des heutigen Tages, oder eigentlich des gestrigen, denn Mitternacht war längst vorüber.
»Ungeübte Schrift«, murmelte Holmes. »Sicher ist dies nicht Ihres Gatten Hand, gnädige Frau.«
»Nein, aber der Brief selbst ist von ihm.«
»Man sieht auch, daß derjenige, der die Aufschrift machte, sich erst genauer nach der Adresse erkundigen mußte.«
»Woraus können Sie das schließen?«
»Der Name ist, wie Sie sehen, vollständig schwarz, weil die Tinte darauf von selbst abtrocknete. Das übrige dagegen ist grauschwarz, ein Beweis, daß Löschpapier dabei verwendet wurde.