Schopenhauer. Kuno FischerЧитать онлайн книгу.
Menschenscheu und sein darauf gegründetes Misstrauen mögen ihm bisweilen zu einer nützlichen Schutzwehr gedient haben, aber sie haben ihm auch schlimme Früchte getragen. Eine der schlimmsten lag darin, dass dieser geniale Denker, der dunkle und labyrinthische Gegenden der menschlichen Natur zu erleuchten gewusst hat, in konkreten und praktischen Fällen oft eine erstaunliche, seinen eigensten und teuersten Interessen verderbliche Menschenunkenntnis an den Tag gelegt hat, denn grundloses Misstrauen paart sich leicht mit grundlosem Vertrauen, und maßlose Affekte sind vor dem Richterstuhl der Vernunft grundlos. Der Ausspruch des Herzogs im Goethe’schen Tasso passte auf ihn wie bestellt:
Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt,
Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen.
Wenn er solche Worte, wie die angeführten, in seinem gefeierten Dichter las, so musste die innere Stimme ihm zurufen: »de te fabula narratur!«
Nehmen wir nun an, dass aus der ihm angeborenen Willensart eine Lebensanschauung und Weltansicht erwuchs, so konnte dieselbe nicht anders als schwermütig ausfallen, sich düster färben und pessimistisch gestalten. Freilich gehörte dazu das Bedürfnis nach einer Weltansicht, der mächtige Drang nach Vorstellungen und Ideen, der Vergrößerungsspiegel der Phantasie; sonst entstand nur ein elender, von den unseligsten Affekten gequälter, von seinen Wahnideen bis zur Verdunkelung beherrschter Mensch!
3. Das mütterliche Erbteil
Ein solcher Ideendurst, eine solche intellektuelle Triebkraft herrschte wirklich in dem jungen Arthur, und zwar von Anbeginn. Dieser zweite Grundzug seines Wesens war das Erbteil seiner Mutter. Johanna Schopenhauer, wie wir sie schon kennen gelernt haben, war eine lebensfrohe, heitere, der Sonnenwelt zugewendete Natur, die vor allem Pessimismus zurückwich, als ob sie ein Gifthauch anwehte. Es lagen dichterische und künstlerische Keime in ihr bereit, die nur auf günstige Bedingungen harrten, um sich schnell und leicht zu entfalten. Sie ist eine anmutige und vielgelesene Schriftstellerin geworden und hat ihre intellektuelle Begabung auf ihre beiden Kinder vererbt. Adele hat sich als Blumenmalerin ausgezeichnet, Märchen gedichtet und, was mehr als beides sagen will, sich in das Gebiet der literarischen und künstlerischen Interessen dergestalt eingelebt, dass sie Goethe bei seinen Arbeiten gute Dienste leisten konnte.
Und Arthur? Sein intellektuelles Naturell war mit dem ganzen Schwergewicht seines starken und heftigen Wollens angetan und ausgerüstet; er war berufen ein genialer Künstler zu werden, nicht ein solcher, der die Erscheinungen in Gestalten und Farben, sondern der das Wesen und die Beschaffenheit der Dinge in Begriffen darstellt und abbildet: ein Künstler, dessen Stoff in Erkenntnissen, Einsichten und Ideen besteht, die auf dem Weg der gelehrten, wissenschaftlichen, philosophischen Bildung und Arbeit erworben werden mussten. Vermöge seiner Geistesart gehörte er zu den Kindern des Lichts, zu jenen »Göttersöhnen«, die nach dem Wort des Herrn berufen sind, das Wesen der Welt, das Ewige im Vergänglichen zu erkennen und anzuschauen: »Und was in schwankender Erscheinung schwebt, befestiget mit dauernden Gedanken!« – Das Gefühl dieses Berufs war schon in ihm lebendig, als er sich verurteilt sah, im Comptoir zu Hamburg die kaufmännischen Geschäfte zu erlernen.
Zweites Kapitel
Der zweite Abschnitt der Jugendgeschichte. Die neue Laufbahn und die neuen Lehrjahre (1805 – 1814)
I. Johanna Schopenhauer in Weimar
1. Der gesellige Kreis. Goethe
Den 28. September 1806 war Frau Schopenhauer mit ihrer neunjährigen Tochter in Weimar angelangt, ahnungslos, welchen furchtbaren Ereignissen in nächster Zukunft sie entgegenging. Aber, wie seltsam es klingt, sie hätte zu ihrem geselligen Heil in keinem gelegeneren Zeitpunkte nach Weimar kommen können, als in den Tagen der Schlacht bei Jena. Solche ungeheure Begebenheiten rütteln die Menschenlose durcheinander und führen Personen, die sonst getrennt bleiben, schnell und traulich zusammen. In der gemeinsamen Ausübung weiblicher Tugenden, um Not und Elend zu lindern, fand sie sogleich alle Gelegenheit, sich tätig und hilfreich zu zeigen; sie war wohlhabend und freigebig; sie wusste auch im geistigen Wechselverkehr angenehm und anregend zu wirken durch die Art, wie sie sich mitteilte und wie sie empfing.
Gleich in den ersten Tagen hatte sie Goethe besucht, aber nicht angetroffen, alsbald überraschte er sie durch seinen schnellen und scheinlosen Gegenbesuch; sie war durch Fräulein von Göchhausen der Herzogin Amalie vorgestellt und mit Wieland bekannt gemacht worden. Es dauerte nicht lange, so war Johanna Schopenhauer der Mittelpunkt eines geselligen Kreises von unvergleichlicher Art. Nun interessieren uns vor allem die brieflichen Nachrichten, die sie dem Sohne gab.
Einige Tage nach der Schlacht hatte Goethe sich mit Christiane Vulpius, seiner bewährten tapferen Freundin, trauen lassen und die natürliche Ehe, die er schon achtzehn Jahre mit ihr geführt, in eine vollgültige verwandelt. Aber von der weimarschen Gesellschaft wurde ihm die gesetzliche Form seiner Ehe noch mehr verübelt als die ungesetzliche, da sie eine soziale Erhöhung und Anerkennung der Frau zur Folge hatte, die man derselben nicht gönnte. Ganz anders dachte Frau Schopenhauer; sie freute sich aufrichtig ihrer Bekanntschaft, als ihr Goethe seine Frau schon am nächsten Tage zuführte (20. Oktober 1806). Ein treffendes Wort darüber schrieb sie ihrem Sohn: »Wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, so können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben«.
Goethe hat diese Aufnahme dankbar empfunden und ihr vergolten. Bald fühlte er sich wohl und heimisch in ihrem Hause und nahm an den Gesellschaftsabenden, die sie zweimal wöchentlich hielt, den regsten Anteil; jedes Mal stand für ihn ein kleiner Tisch mit Material zum Zeichnen in Bereitschaft. Unter den Genrebildern, die uns Goethe im geselligen Verkehr zeigen, würde eines der anmutigsten und eigenartigsten fehlen, wenn Johanna Schopenhauer ihre weimarschen Gesellschaftsabende dem Sohne nicht so anschaulich beschrieben hätte.
Hier las Goethe eines Abends mit verteilten Rollen seine »Mitschuldigen«, ein anderes Mal las er schottische Balladen, dann Calderons »standhaften Prinzen«, der mehrere Abende in Anspruch nahm. Da diese Tragödie, als er sie aufführen sah, einen so außerordentlich tiefen Eindruck auf Arthur Schopenhauer gemacht und in seinen Schriften ihm wiederholt zur Erleuchtung seiner Heilslehre gedient hat, so ist uns der Brief seiner Mutter, worin sie ihm die eben erwähnte Vorlesung schildert, in mehr als einer Hinsicht merkwürdig. »Goethe verlässt mich nicht«, schrieb sie den 23. März 1807, »er hat jeden Abend seinen standhaften Prinzen standhaft vorgelesen bis gestern, wo er ihn zu Ende brachte. Es ist doch ein hoher Genuss, von Goethe dies lesen zu hören; mit seiner unbeschreiblichen Kraft, seinem Feuer, seiner plastischen Darstellung riss er uns alle mit fort, obgleich er nicht kunstgemäß gut liest.
Er ist viel zu lebhaft, er deklamiert, und wenn etwa ein Streit oder gar eine Bataille vorkommt, macht er einen Lärm, wie in Drury Lane, wenn es dort eine Schlacht gab. Auch spielt er jede Rolle, die er liest, wenn sie ihm eben gefällt, so gut es sich im Sitzen tun lässt. Jede schöne Rolle macht auf sein Gemüt den lebhaftesten Eindruck, er erklärt sie, liest sie zwei- und dreimal, sagt tausend Dinge dabei, kurz, es ist ein eigenes Wesen, und wehe dem, der es ihm nachtun wollte! Aber es ist unmöglich, ihm nicht mit innigem Anteil, mit Bewunderung zuzuhören, noch mehr ihm zuzusehen; denn wie schön alles dieses seinem Gesichte, seinem ganzen Wesen lässt, mit wie einer eigenen hohen Grazie er alles dies treibt, davon kann niemand sich einen Begriff machen. Er hat etwas so Einfaches, so Kindliches. Alles, was ihm gefällt, sieht er leibhaftig vor sich; bei jeder Szene denkt er sich gleich die Dekoration und wie das Ganze aussehen muss. Kurz, ich wünschte, du hörtest das einmal.«125
Der Brief charakterisiert auch die Briefstellerin, ihre lebhafte Einbildungskraft, ihr anschauliches Darstellungsvermögen, das alles, was sie erzählt, uns so sehen lässt, wie sie selbst es sieht. Dies heißt künstlerisch vorstellen und schreiben. Ich kann es mir nicht versagen, aus einem Brief, der zwei Monate nach ihrer Ankunft in Weimar geschrieben ist, die Stelle anzuführen, worin sie Goethes Erscheinung und deren Eindruck schildert. »Welch ein Wesen ist dieser Goethe! Wie groß und gut! Da ich nicht weiß, ob er kommt, so erschrecke ich jedes Mal, wann er ins Zimmer tritt; es ist, als ob er eine höhere Natur als alle übrigen wäre, denn ich sehe