Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
Vorhänge beiseite. »Ich wüßte gern, ob Artur Wilmot auch wach ist.«
Andy war derselbe Gedanke gekommen. Nachdem Stella ihm das feierliche Versprechen gegeben hatte, sich sofort hinzulegen, verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg zu Wilmots Häuschen.
Es dauerte nicht lange, bis er ihn geweckt hatte. Artur Wilmot hörte sich die Neuigkeiten mit merkwürdiger Ruhe an.
»Es ist sonderbar«, sagte er. »Ich war gestern noch in dem Haus. Ich bin es auch gewesen, der das hintere Fenster verriegelt hat. Es war nach dem Mord nicht wieder geschlossen worden.«
»Haben Sie denn nichts gesehen?« fragte Andy.
»Nichts. Wenn Sie eine Minute warten, bis ich mich angezogen habe, können wir zusammen hinübergehen. Es wird bis dahin hell genug sein, um Fußspuren im Garten erkennen zu können.«
»Damit brauchen Sie gar nicht zu rechnen. Ein mit Asche bestreuter Weg und ein asphaltierter Hof sind nicht das beste Material, um Fußabdrücke zu bewahren.«
Trotzdem begleitete er Artur; sie durchsuchten alle Räume und begannen beim Eingangsflur.
»Hier ist etwas.«
Wilmot zeigte auf den Boden.
»Tropfen von einer Kerze!« rief Andy interessiert. »War jemand mit Kerzen hier?«
Wilmot schüttelte den Kopf.
Sie fanden noch weitere Kerzenspuren in Merrivans Arbeitszimmer und entdeckten im Kamin auch einen Kerzenstumpf.
»Es war nicht einmal dieser Beweis nötig, um zu erkennen, daß ein Mensch von Fleisch und Blut und kein Gespenst hier sein Wesen getrieben hat«, sagte Andy. »Ohne eine Autorität auf dem Gebiet zu sein, weiß ich doch, daß sie keine Kerzen brauchen.«
Er wickelte den Stumpf sorgfältig in ein Stück Papier.
»Was wollen Sie damit anfangen?« fragte Wilmot erstaunt.
Andy lächelte.
»Für einen Mann, der mir noch eben vorschlug, mich nach Fußspuren auf dem Asphalt umzusehen, sind Sie eigentlich sehr schwerfällig, Wilmot. Dieser Kerzenstumpf ist doch mit Fingerabdrücken bedeckt. Der Mörder, ob er nun bei klarem Verstand oder wahnsinnig war, fühlte sich zu dem Ort der Tat hingezogen, wahrscheinlich war er schon häufig hier.«
*
Andy sagte Wilmot und Nelson nichts von seinen Plänen. Zuerst mußte er Mrs. Crafton-Bonsor aufsuchen. Aber sie ließ sich nicht sprechen, und als Andy die Dringlichkeit seines Besuches betonte, weigerte sie sich noch hartnäckiger, ihn zu empfangen. Scottie war ihr Bote.
»Das sind so Weiberlaunen«, sagte er halblaut. »Es hat keinen Zweck, Macleod, sie ist in dieser Beziehung unnachgiebig und hart wie ein neolithisches Fossil. Ich habe mein Bestes getan, aber sie will Sie nicht sehen.«
»Scottie, ich habe Sie immer gut behandelt, Sie müssen mir jetzt helfen. In welchen Beziehungen stand Albert Selim zu ihr?«
Scottie zuckte die Schultern.
»Man soll die Vergangenheit einer Frau nie erforschen wollen, Macleod. ›Vergangenheit ist tot, damit die Zukunft glücklich sei.‹«
»Die Zukunft interessiert mich nicht, aber über Mr. Crafton-Bonsors Vergangenheit möchte ich etwas erfahren«, sagte Andy unwillig. »Ich werde sie sprechen – oder ich mache Schwierigkeiten!«
Scottie verschwand und blieb fast eine halbe Stunde weg.
»Sie ist zweifellos krank, Macleod, als Arzt werden Sie das sofort sehen. Trotzdem will sie Ihnen zwei Minuten schenken. Aber bleiben Sie bitte nicht zu lange.«
Mrs. Bonsor lag auf einer Couch. Scottie hatte nicht übertrieben. Die Erwähnung des Mordes hatte eine schlechte Wirkung auf die Frau gehabt. Ihre vollen Wangen schienen eingesunken zu sein, die Anmaßung, die sonst in ihren blauen Augen lag, war verschwunden.
»Ich habe Ihnen nichts zu erzählen, Sir«, sagte sie bei Andys Eintritt scharf.
»Hat Scottie Ihnen nicht mitgeteilt …«, begann er.
»Nein«, rief sie mit schriller Stimme, »und ich sehe nicht ein, mit welchem Recht Sie hier eindringen, um mich auszuhorchen!«
»Waren Sie mit Albert Selim bekannt?«
Sie zögerte.
»Ja, ich kannte ihn«, erwiderte sie dann widerstrebend. »Vor vielen Jahren. Ich werde aber mit Ihnen nicht darüber sprechen. Meine Privatangelegenheiten gehen niemand etwas an. Es ist mir ganz gleich, ob Sie Polizeibeamter sind oder nicht. Ich habe nichts zu verbergen, glauben Sie mir das.«
Andy wartete, bis sie geendet hatte.
»Sie hießen früher Hilda Masters und heirateten einen John Severn in der Sankt-Pauls-Kirche in Kensington«, sagte er dann.
Sie starrte ihn hilflos an und begann gleich darauf zu schreien.
Scottie bewahrte bei diesem Zusammenbruch der verzweifelten Frau die Ruhe. Er war zugleich behutsam und bestimmt, beruhigend und ironisch. Andy ließ die beiden taktvoll eine halbe Stunde allein, dann kam Scottie zu ihm heraus.
»Macleod, sie wird Ihnen die Wahrheit sagen. Und da Stenographie von jeher meine Lieblingsbeschäftigung war, werde ich alles mitschreiben. Ich schrieb hundertachtzig, als ich jung war, und es gab nur wenige Stenotypisten, die mich an Schnelligkeit im Maschinenschreiben übertrafen. Mirabel spricht kein erstklassiges Englisch, und es ist besser, ich bringe alles gleich in Polizeisprache. – Sie ist sommersprossig und hat Plomben im Mund, und sie mißfiel mir, als ich sie das erstemal sah. Aber ich habe die Frau jetzt gern. Sie ist nicht mehr allzu jung, aber man nimmt es nicht mehr so genau, wenn man selbst älter wird. Sie fragen sie am besten, und ich schreibe das Wichtigste aus ihren Antworten auf.«
Andy war einverstanden, und aus dieser sonderbaren Zusammenarbeit ergab sich eine noch sonderbarere Geschichte.
30
»Ich heiße Mirabel Hilda Crafton-Bonsor. Ich weiß nicht sicher, ob dies der wirkliche Name meines verstorbenen Mannes war. Wahrscheinlich hieß er Michael Murphy. Er war irischer Abstammung, und als ich ihn kennenlernte, war er Unternehmer in Sacramento im Staat Kalifornien.
Ich wurde in dem Dorf Uckfield, Sussex, geboren, kam aber schon mit sieben Jahren nach London. Als meine Eltern starben, zog ich zu einer Tante, Mrs. Pawl, in die Bayham Street, Camden Town. Mit sechzehn Jahren nahm ich eine Stellung als Hausmädchen bei Miss Janet Severn an, 104 Manchester Square. Miss Severn hatte sonderbare Ansichten über das Heiraten.
Außer Miss Janet und den anderen Dienstboten wohnte noch Mr. John Severn, ihr Neffe, im Haus. Er war aber nur während der Ferien da. Er studierte in Cambridge.
Leider kann ich weder lesen noch schreiben, und obgleich ich später meinen Namen schreiben lernte, so daß ich Schecks ausstellen kann, habe ich es doch nicht weitergebracht. Deshalb habe ich auch von dem Mord nichts weiter gelesen. Ich wußte die Namen der Personen nicht, die es anging. Ich sah Mr. John sehr häufig, wenn er daheim war. Er hatte mich ganz gern, ich war ein hübsches Mädchen. Aber er hat nie mit mir angebändelt.
Während ich bei Miss Janet in Stellung war, lernte ich Mr. Selim kennen – Albert Selim. Er kam gewöhnlich einmal in der Woche an den Eingang für Dienstboten. Zuerst dachte ich, er sei ein Händler, der uns allerhand auf Kredit verkaufen wollte, später aber fand ich heraus, daß er ein Geldverleiher war, der draußen in West End viel mit Dienstboten zu tun hatte. Die Köchin war sehr hoch bei ihm verschuldet, und ein Dienstmädchen hatte auch Geld von ihm geliehen. Er sah ganz gut aus, und als er entdeckte, daß ich kein Geld von ihm leihen wollte, sondern sogar etwas auf der Bank hatte, schien ich ihm zu gefallen, und er fragte mich, ob ich nicht an meinem nächsten freien Sonntag mit ihm ausgehen