Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band. Edgar WallaceЧитать онлайн книгу.
konnte gar kein Zweifel bestehen. Das Löschblatt war frisch aufgezogen worden, und die Spiegelschrift der Adresse zeigte sich deutlich auf dem schneeweißen Papier.
Wieder sah er auf den Umschlag.
Ein Patient konnte es nicht gewesen sein; Patienten ließ er nie in seine Wohnung kommen. Seine Praxis war ohnehin ganz unbedeutend, sie diente ihm ja eigentlich nur als Vorwand. Außerdem war die Tür doch verschlossen gewesen, und er allein besaß einen Hausschlüssel. Zögernd riß er das Kuvert auf. Er fand nur einen halben Bogen darin, auf dem drei Zeilen standen:
Heute abend sind Sie uns entkommen. Sie haben nur noch zehn Tage Zeit, um sich auf das Schicksal vorzubereiten, das Sie erwartet.
Die vier Gerechten.
Er sank vernichtet in einen Stuhl.
Es waren die ›Vier Gerechten‹ gewesen – und er war ihnen entkommen!
Die ›Vier Gerechten‹! Er verbarg sein Gesicht in den Händen und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Zehn Tage gaben sie ihm noch. In zehn Tagen konnte er noch manches tun. Und doch packte ihn Todesangst, ihn, der ohne die geringsten Gewissensbisse so viele andere Menschen in den Tod geschickt hatte. Aber jetzt handelte es sich um ihn – um ihn selbst! Er faßte krampfhaft mit den Händen an seinen Hals und sah sich angsterfüllt im Zimmer um. Ihm, dem Spezialisten für Gifte, der immer so leicht mit dem Tode umgegangen war, der die alte Kunst der Borgias wieder zum Leben erweckt hatte und der der Justiz bisher stets entkommen war – ihm blieben nur noch zehn Tage! Nun gut, er wollte wenigstens diesen Mr. Sandford noch fassen. Das mußte um Blacks willen geschehen!
Seine Gedanken arbeiteten fieberhaft, denn es galt, genaue Pläne für die Zukunft zu machen. Papiere und Dokumente brauchte er nicht zu vernichten, denn er besaß keine. Er eilte in sein Laboratorium und goß drei Flaschen in den Ausguß. Die vierte nahm er mit, die würde er noch brauchen. Sie war auch Black schon nützlich gewesen, diese kleine grüne Flasche mit dem Glasstöpsel, die er jetzt in seine Tasche gleiten ließ.
Dann drehte er den Wasserhahn auf, um alle Spuren der Gifte zu entfernen, die er ausgeschüttet hatte. Die Flaschen selbst zerschlug er und warf sie in den Abfallkasten.
Nachdem dies geschehen war, ging er in sein Schlafzimmer, das sich im Obergeschoß befand, aber er konnte keine Ruhe finden. Nach einiger Zeit stand er wieder auf, schloß die Tür ab und stellte außerdem noch einen Stuhl unter die Türklinke. Mit einem entsicherten Revolver in der Hand durchsuchte er den Kleiderschrank und schaute unter das Bett. Schließlich beruhigte er sich etwas, legte den Revolver unter sein Kissen und versuchte zu schlafen.
*
Am nächsten Morgen fühlte er sich elend und zerschlagen. Seine Wangen waren eingefallen, und schwere, schwarze Schatten lagen um seine Augen. Trotzdem kleidete er sich mit der gewohnten Sorgfalt an.
Gegen Mittag erschien er bei Mr. Sandford; er wurde sofort in das Empfangszimmer geführt.
Miss Sandford war allein im Raum, als er eintrat. Mit Befriedigung sah er, wie schön sie war.
Allerdings erkannte er auch sofort, daß er ihr unsympathisch war. Ihre Züge verfinsterten sich, als er sich ihr näherte.
»Mein Vater ist nicht zu Hause.«
»Das trifft sich ja vorzüglich. Dann können wir uns einmal ein wenig miteinander unterhalten.«
Er setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein.
»Die Befürchtungen meines Vaters wegen meiner Gesundheit sind wirklich völlig grundlos.«
In diesem Augenblick trat Mr. Sandford ein und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand.
»Nun, wie finden Sie meine Tochter?«
»Das Aussehen allein sagt noch gar nichts«, erwiderte Essley.
Jetzt konnte er die Manipulation mit der Feder nicht vornehmen. Er mußte auf der Hut sein. Er plauderte noch eine Weile mit den beiden und erhob sich dann.
»Ich werde Ihnen eine Medizin schicken.«
May verzog das Gesicht.
»Sie brauchen sie ja nicht zu nehmen«, sagte er ironisch.
»Darf ich Sie für Dienstag zum Essen einladen?« fragte Sandford.
Dr. Essley überlegte: Heute war Sonnabend – also in drei Tagen. Sieben Tage hatte er dann noch. Inzwischen konnte sich vieles ändern …
»Ja, ich werde kommen.«
Er nahm sich ein Taxi und fuhr zu einem Haus in der Nähe des Embankments. Er hatte dort Räume, die ihm schon oft nützlich gewesen waren.
9
Mr. Sandford hatte eine entscheidende Unterredung mit Oberst Black.
In der City kursierten viele Gerüchte. Man raunte sich zu, daß Oberst Black finanziell sehr schlecht stehe – die Fusion der Hüttenwerke, von der so viel abhing, war nicht zustande gekommen.
Black saß an diesem Nachmittag an seinem Schreibtisch und spielte mit dem Brieföffner. Seine Stimmung war noch düsterer als sonst; die Hand, die das Messer hielt, zitterte nervös.
Er sah auf die Uhr – Sandford mußte gleich erscheinen. Dann drückte er auf eine Klingel an der Seite des Schreibtisches, und gleich darauf kam ein Angestellter herein.
»Ist Mr. Sandford noch nicht hier?« fragte er.
»In diesem Augenblick ist er gekommen.«
»Führen Sie ihn herein.«
Die beiden begrüßten sich förmlich, und Black forderte seinen Gast durch eine Handbewegung auf, Platz zu nehmen.
»Setzen Sie sich, Sandford«, sagte er kurz. »Nun lassen Sie mich einmal wissen, wie wir miteinander stehen.«
»Wie früher«, erwiderte Sandford wenig zuvorkommend.
»Wollen Sie bei der Fusion wirklich nicht mitmachen?«
»Nein.«
Black klopfte mit dem Brieföffner leicht auf den Schreibtisch. Sandford betrachtete ihn. Der Oberst sah gealtert aus, sein gelbliches Gesicht war von Falten und Runzeln durchzogen. »Das bedeutet den Ruin für mich«, sagte der Oberst. »Ich habe mehr Gläubiger, als ich zählen kann. Wenn die Fusion zustande käme, könnte ich alles in Ordnung bringen. Und mit mir stehen und fallen viele andere – zum Beispiel Ikey Tramber. Sie kennen doch Sir Isaac? Er ist ein Freund von – Lord Verlond.«
Blacks Worte machten jedoch auf Sandford keinen Eindruck.
»Es ist Ihre Schuld, wenn Sie in Verlegenheit gekommen sind. Sie haben sich eben übernommen – oder vielmehr, Sie haben alles schon für Wirklichkeit genommen, was Sie erst planten.«
Black erhob den Blick und sah Sandford ins Gesicht.
»Es ist sehr leicht, sich hierherzusetzen und mir Moralpredigten zu halten.« Das Zittern in seiner Stimme verriet dem Millionär die Erregung, die Black zu verbergen suchte. »Ich brauche keinen guten Rat und auch keine tröstenden Worte – ich brauche Geld. Beteiligen Sie sich an meinem Plan und stimmen Sie der Fusion zu oder –«
»Oder?« wiederholte Sandford ruhig.
»Ich drohe Ihnen nicht«, erwiderte Black düster. »Ich warne Sie nur – Sie riskieren mehr, als Sie wissen.«
»Ich will das Risiko auf mich nehmen.« Sandford stand auf. »Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Nein, nichts.«
»Dann auf Wiedersehen.«
Die Tür schloß sich dröhnend hinter ihm, aber Black