Heimathafen Hellas. Andreas DeffnerЧитать онлайн книгу.
Nachdem ich einmal um den gesamten Platz gelaufen war und an keiner der zahlreichen Haltestellen einen Hinweis auf die richtige Linie gefunden hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als zu fragen. Irgendwann gelang es mir einen älteren Herrn zu finden, der den Bus zum Busbahnhof kannte. Die Haltestelle sei aber nicht direkt am Omónia-Platz, erfuhr ich von ihm. »Sie müssen hier vorne die Hauptstraße hinab und dann an der dritten Straße nach links abbiegen.« Ich bedankte mich bei dem freundlichen Herrn, verfluchte mein Reisegepäck und schleppte mich weiter durch die Athener Hitze. Tatsächlich fand ich die Haltestelle, musste aber noch eine ganze Weile auf den nächsten Bus warten. An einem Períptero, einem der unzähligen Kioske am Straßenrand, kaufte ich mir eine Flasche Wasser, die ich in einem Schluck leerte. Als sich schließlich der Bus näherte, bekam ich Sorge, dass ich meine Weiterfahrt ohne meine verdammte Tasche antreten müsste. Denn im Inneren des alten blau-weißen MAN-Gefährts standen Menschen dicht aneinandergedrängt. Es gelang mir dann doch irgendwie einen Stehplatz für mich und meine Tasche zu ergattern, der genau unter einem Haltegriff einem schmalen Menschen knapp Platz bot. Instinktiv griff ich, als der Bus anfuhr, mit meiner schwitzigen Hand nach der porösen Plastikschlaufe. Etwa dreißig von ihnen mochte es in dem Bus geben. Die allermeisten waren frei und baumelten von einer Längsstange herab über den vielen Köpfen der Insassen. Als meine Hand in die Schlaufe glitschte, wurde mir bewusst, warum niemand außer mir und der uralten Frau neben mir sich daran festhalten wollte. Ein schlüpfrig-klebriges Gefühl, wie es nur Generationen getrockneter Schweißschichten auf uraltem, porösem Plastik verursachen können. Mit einem Schlag war meine völlig durchgeschwitzte Kleidung an meinem erschöpften Körper nur noch ein Nebenproblem. Wie angewurzelt stand ich nun stocksteif im Gedränge des Busses, blickte zuerst auf meine Hand, dann auf diejenige, die in der Nachbarschlaufe verkrallt war. Sie gehörte zu der etwa 80-jährigen Frau neben mir, die sich krampfhaft daran festhielt, obwohl ein Umfallen im Bus aufgrund der Menschenmenge schlichtweg unmöglich war. Ein unangenehmer Geruch drang in meine Nase. Alter Schweiß mit einer Nuance Knoblauch und einem Hauch alten Tabakqualms, der sich in selten gewaschener Kleidung sammelt. Mein Blick wanderte den altersfleckigen Arm der Alten hinab und in der freien Achselhöhle sah ich ein dichtes, altersgraues Haarbüschel. Mitten im Leben, ging es mir durch den Kopf, und gleichzeitig so kurz davor aus demselben zu treten. Während mir der Schweiß auf der Stirn stand und über den Rücken in die Unterhose tropfte, blieb die alte Frau neben mir völlig trocken. Keine einzige Schweißperle war zu sehen, obwohl sich der Geruch desselben im Bus beißend ausgebreitet hatte. Die Frau guckte nun gutmütig und gelassen zu mir. Sie lächelte und es sah so aus, als wollte sie sagen: »Ach mein Junge, es sind doch nur noch zwei Haltestellen. Halte durch!« Und in der Tat: Ich überlebte und am Busbahnhof fiel ich halb bewusstlos fast aufs Pflaster.
Mit letzter Kraft wankte ich ins klimatisierte, alte Gebäude der KTEL, der griechischen Überlandbusgesellschaft. In der Halle blickte ich auf gut und gerne zwanzig bis dreißig Ticketschalter. Über den kleinen Glaskabinen war jeweils ein Schild mit einem Stadtnamen angebracht. Mit den Überlandbussen, die seit den 50er-Jahren ganz Griechenland befahren und seit 1973 als Gemeinschaftsunternehmen KTEL firmieren, erreichte man fast jede Ecke des Landes. Dennoch war ich angesichts der vielen Ortsnamen beeindruckt. Ich hatte den Schalter mit der Überschrift »Náfplion« bereits beim Eintreten gesehen. Und ich war überrascht, dass scheinbar für jede Destination ein eigener Fahrkartenschalter vorgehalten wurde. Hinter den allermeisten langweilten sich augenscheinlich die Angestellten. Ich hingegen reihte mich in die Schlange derjenigen ein, die nach Náfplion oder Argos wollten. Stündlich fuhren die Busse ab. Als ich an der Reihe war, war noch eine gute halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Busses. Auf Englisch bestellte ich einen Fahrschein nach Náfplion und war erstens überrascht, wie preiswert das Ticket war und zweitens wie unproblematisch es mir gelungen war, es zu kaufen. Die Dame hinter dem Tresen druckte mir einen blau-weißen, länglichen Fahrschein aus, auf dem das Ziel, eine Sitzplatznummer und die Abfahrtszeit angegeben waren. Ich stutzte beim Anblick der aufgedruckten Abfahrtszeit. Schnell wendete ich mich wieder der Schalterdame zu.
»Ich wollte mit dem Bus fahren, der in einer halben Stunde abfährt«, sagte ich zu ihr. Sie nickte wissend und antwortete:
»Ja, ich weiß, aber der Bus ist schon voll. Der nächste kommt dann in eineinhalb Stunden.«
Ich muss ein wenig verstört geguckt haben, denn die nächsten Wartenden in der Reihe schauten mich mitleidig an. Von den Strapazen der bisherigen Anreise gezeichnet und von der Hoffnung auf einen baldigen Bus enttäuscht, räumte ich schweren Mutes den Platz am Fahrkartenschalter. Im hinteren Teil des Busbahnhofgebäudes gab es neben einigen Verkaufsständen auch ein Café in Wartehallenatmosphäre par excellence, ein echtes griechisches Kafeneíon eben. An den kleinen, runden Kaffeehaustischen saßen Reisende neben ihren vollgepackten Taschen, Koffern, Kisten und Sperrgütern. Der gesamte Raum war in ein qualmiges, blaugraues Licht getaucht. Hier schien jeder zu rauchen und der griechische Tabak der Marke Basmas für Zigaretten der Firmen Karelia und Co. vermochte einen besonders dichten Qualm zu erzeugen. Zwar war der Aufenthalt in dieser Räucherhöhle für einen Nichtraucher aufgrund des Brennens in der Lunge nicht ganz optimal, dennoch faszinierte mich das Ambiente und ich holte mir an der langen Selbstbedienungstheke eine Tirópita und einen Frappé. Ich hatte im Vorjahr diese Kombination aus mit Feta gefüllten Blätterteigtaschen und dem herrlich frischen Eiskaffee liebgewonnen. Ich setzte mich mit meinem kleinen Mittagessen an einen der letzten freien Tische und beobachtete die rauchgeschwängerte Szenerie, als sich ein etwa 50-jähriger Grieche an meinen Tisch gesellte. Er sah mir offenbar an, dass ich Ausländer war und sprach mich daher auf Englisch an: »Wohin geht denn die Reise? Wo kommst du her? Wie war das Wetter bei euch dort oben? Zahlen sie gute Löhne in Europa? Schmeckt der Frappé? Kennst du dich mit Gartenarbeit aus? Von welchem Fußballverein bist du Fan?« Ein Fragengewitter ging auf mich nieder. Der Grieche war scheinbar in Frage- und Erzähllaune. Er sei ungelernter Arbeiter, schaffe als Gärtner und Hausmeister in den noblen Athener Vororten und nun sei er auf dem Weg in sein Heimatdorf. Das alles und seine vermutlich fast vollständige Lebensgeschichte erfuhr ich, zwischen Tirópita und Frappé, innerhalb weniger Minuten, dann musste er los. Ich könne aber ruhig nochmal zur Toilette gehen, wenn ich müsse. Er würde dann auf meine Tasche aufpassen. Als misstrauischer Nordeuropäer würde man dieses Angebot aus Sicherheitsgründen natürlich ablehnen, ich fühlte mich jedoch dem Gärtner, meinem neuen griechischen Freund, in der Pflicht, der kurz zuvor ebenfalls im Keller bei den WCs gewesen war, während ich ein Auge auf sein Gepäck geworfen hatte. Im Übrigen konnte mir an diesem Tag eh nichts Schlimmes mehr passieren und Kostas war mir sympathisch. Ich eilte also zum Klo. In meinem Magen machte sich nun dennoch ein mulmiges Gefühl breit. Geld, Ausweis und Bustickets hatte ich zwar in der Hosentasche, aber was, wenn Kostas gar kein Gärtner, sondern ein fixer Taschendieb wäre? Ich beeilte mich, in dem schlecht gekachelten und nach altem Urin miefenden Raum fertig zu werden. Flink wusch ich mir noch die Hände – Seife gab es keine, Papierhandtücher oder ähnliches ebenfalls nicht – und wollte mit nassen Händen gerade wieder die Treppe hinauf sprinten, als mir eine dicke Klofrau fröhlich lächelnd einige Blätter abgewickeltes Toilettenpapier in die Hände drückte. Offenbar war dies der übliche Handtuchersatz, denn die gute Frau hatte an ihrem kleinen Tisch gleich mehrere Stapel des grauen Zellstoffes für die handfeuchten Gäste vorbereitet. Von der Freundlichkeit beeindruckt, kramte ich einen 100-Drachmen-Schein hervor, legte ihn der Frau auf ihr Tellerchen und hätte dabei fast vergessen, dass ich mein Reisegepäck nach wie vor einem Fremden anvertraute. Gehetzt erreichte ich wieder das Tischchen, an dem Kostas weiterhin in aller Seelenruhe an seinem griechischen Kaffee nippte. »Schön dich kennengelernt zu haben, aber ich muss mich jetzt leider verabschieden. Mein Bus fährt in drei Minuten ab«, sagte Kostas und verschwand. Mit ihm mein Misstrauen. Natürlich hatte er nichts gestohlen, natürlich nicht einmal daran gedacht.
Eine gute halbe Stunde vor der planmäßigen Abfahrt meines Busses machte ich mich auf, den richtigen Abfahrtsplatz zu finden. Es wimmelte nur so von Bussen, die Athen in alle Himmelsrichtungen verließen. Menschen und Taxis drängten umher. Ein uralter Greis mit einer großen Sackkarre bot sich gegen Bezahlung an, die schweren Koffer der Reisenden zu den Bussen zu transportieren. Ich verzichtete auf seine Dienste und kaufte mir stattdessen Wasser. Noch im Kafeneíon des Busbahnhofgebäudes hatte ich beobachtet, dass offenbar jeder griechische Busreisende mindestens eine 0,5 Liter Plastikflasche mit kaltem, stillem Mineralwasser kaufte, bevor er die Busreise antrat. Ich tat es ihnen gleich.