Die Kleinbürger. Оноре де БальзакЧитать онлайн книгу.
und allen denen, die die Nachricht herbeigerufen hatte, dass ein kleiner Tanz bei den Thuilliers stattfinden sollte; sie war im Luxembourgbezirk zwischen zwei und vier Uhr, wo die Bourgeoisie ihren Spaziergang macht, verbreitet worden.
»Sind Sie fertig, Brigitte?« sagte Colleville und erschien im Speisezimmer; »es ist neun Uhr, und sie sind schon wie die Heringe im Salon zusammengepresst. Cardot mit Frau, Sohn, Tochter und seinem zukünftigen Schwiegersohn sind eben gekommen und mit ihnen der junge Staatsanwaltsgehilfe Vinet, und das Faubourg Saint-Antoine tritt auch eben an. Wollen wir nicht das Piano aus dem Salon hier hereinnehmen?«
Er gab das Signal, indem er seine Klarinette probierte, deren komische Töne mit einem Hurra im Salon begrüßt wurden.
Es wäre ziemlich überflüssig, einen Ball dieser Art zu beschreiben. Die Toiletten, die Gesichter, die Unterhaltung, alles stimmte überein. Auf stellenweise abgescheuerten und abgenutzten Tabletts wurden Gläser mit reinem, mit verdünntem Wein und mit Zuckerwasser herumgereicht. Die Tabletts mit Mandelmilch und Limonade erschienen nur in längeren Zwischenräumen. Für fünfundzwanzig Spieler waren fünf Spieltische aufgestellt. Achtzehn Tänzer und Tänzerinnen waren zugegen. Um ein Uhr morgens wurden Frau Thuillier, Fräulein Brigitte und Frau Phellion sowie der alte Phellion mit Gewalt zu einem Kontertanze, gemeinhin die »Boulangère« genannt, herangeholt, bei dem Dutocq mit einem Turbanschleier wie ein Kabyle erschien. Die Dienstboten, die ihre Herrschaften abholten, und die des Hauses bildeten die Zuschauer, und da dieser endlose Kontertanz eine Stunde dauerte, wollte man Brigitte im Triumphe herumtragen, als sie zum Souper rief; sie hielt es aber für nötig, erst noch schnell zwölf Flaschen alten Burgunder wegzuschließen. Man amüsierte sich, die alten wie die jungen Damen, so gut, dass Thuillier Gelegenheit nahm, zu sagen:
»Heute früh hatten wir wahrhaftig noch keine Ahnung, dass wir heute ein solches Fest feiern würden!«
»Man amüsiert sich niemals so gut,« sagte der Notar Cardot, »wie bei diesen improvisierten Bällen. Bleiben Sie mir vom Leibe mit den andern steifen Festlichkeiten!«
Diese Meinung ist ein Axiom der Bourgeoisie.
»Ach, was,« sagte Frau Minard, »was mich anlangt, ich liebe den Vater und die Mutter ...«
»Für Sie, gnädige Frau, gilt das nicht, bei Ihnen hat das Vergnügen ein auserlesenes Domizil gefunden«, sagte Dutocq.
Als die Boulangère zu Ende war, holte Theodosius Dutocq vom Büfett, wo er sich ein Schinkenbrötchen genommen hatte, und sagte zu ihm:
»Wir wollen aufbrechen, wir müssen morgen ganz früh bei Cérizet sein, um Näheres über die Sache, die uns beide angeht, zu hören; sie ist nicht so einfach, wie Cérizet meint.«
»Weshalb denn?« fragte Dutocq und aß sein Brötchen im Salon weiter.
»Kennen Sie denn die gesetzlichen Vorschriften nicht? ...«
»Ich kenne sie genügend, um zu wissen, welche Gefahr wir laufen können. Wenn der Notar das Haus haben will, das wir ihm weggeschnappt haben, dann hat er die Möglichkeit, es uns wieder wegzunehmen, er braucht sich bloß hinter einen der angemeldeten Gläubiger zu stecken. Auf Grund des geltenden Hypothekenrechts haben, wenn ein Haus auf Antrag eines Gläubigers subhastiert wird, und der Preis, zu dem es zugeschlagen wird, nicht alle Gläubigerforderungen deckt, die Gläubiger das Recht, nochmals ein höheres Gebot zu machen; und der Notar, einmal hereingefallen, wird sich dann eines Besseren besinnen.«
»Das verdient jedenfalls aufmerksam verfolgt zu werden«, sagte la Peyrade.
»Gut!« sagte der Gerichtsvollzieher, »wir wollen zu Cérizet gehen.«
Die Worte: »Wir wollen zu Cèrizet gehen« hatte der Advokat Minard gehört, der unmittelbar hinter den beiden Genossen herging; aber sie hatten keinen Sinn für ihn. Die beiden Männer standen ihm, seinem Wege und seinen Absichten so fern, dass er das Gesagte wohl hörte, aber nicht verstand.
»Das war einer der schönsten Tage unsres Lebens«, sagte Brigitte, als sie um halb drei Uhr morgens mit ihrem Bruder allein in dem leeren Salon war; »wie stolz kannst du sein, dass dich deine Mitbürger so auf den Schild gehoben haben ...!«
»Täusche dich nicht darüber, Brigitte, mein Kind, dass wir das alles nur einem Manne zu verdanken haben ...«
»Und wen?«
»Unserm Freunde la Peyrade.«
Nicht am nächsten Tage, sondern erst am übernächsten, dem Dienstag, konnten Dutocq und Theodosius Cérizet aufsuchen; der Gerichtsvollzieher hatte darauf aufmerksam gemacht, dass Cérizet am Sonntag und Montag nie zu Hause war, mit Rücksicht auf das vollständige Fernbleiben der Kundschaft an diesen beiden Tagen, an denen das Volk seinem Vergnügen nachgeht. Das Haus, nach dem sie ihre Schritte lenkten, war für das Aussehen des Faubourg Saint-Jacques besonders charakteristisch; und es ist ebenso von Wichtigkeit, es hier näher kennenzulernen, wie die Häuser Thuilliers und Phellions. Man weiß nicht, (und es ist wahr, man hat noch keine Kommission ernannt, um dieses Phänomen zu studieren), – man weiß weder wie noch weshalb die Pariser Bezirke, innerlich wie äußerlich, so verfallen und herunterkommen; wie die alten Sitze des Hofes und der Kirche, der Luxembourg und das Quartier Latin sich zu dem entwickeln konnten, was sie heute sind, trotz eines der schönsten Paläste der Welt, trotz der kühn geschwungenen Kuppel von Saint-Geneviève, der Mansards vom Val-de-Grâce und der Schönheit des botanischen Gartens. Man fragt sich, weshalb das Reizvolle aus dem Leben verschwindet; wie solche Häuser, wie die Vauquers, Phellions, Thuilliers, mit ihren Pensionaten, wie Pilze dort aus der Erde schießen konnten, wo so viele Bauten des Adels und der Kirche gestanden haben, und warum der Schmutz, die mit Unsauberkeit verbundenen Gewerbe und die arme Bevölkerung sich dieses erhöhten Platzes bemächtigen konnten, anstatt sich fern von einem so alten und vornehmen Stadtteil anzusiedeln ... Nachdem der Engel, der seine wohltätigen Fittiche über dieses Viertel ausgebreitet hatte, einmal verschwunden war, hat sich der Wucher unterster Sorte hier festgesetzt. Auf den Gerichtsrat Popinot war ein Cérizet gefolgt; und, merkwürdig und wohl zu beachten, vom sozialen Standpunkte aus war der Effekt ein durchaus nicht so sehr anderer. Popinot gab Darlehen, ohne Zinsen zu nehmen, und wusste sich in einen Verlust zu schicken; Cérizet hatte niemals Verluste und zwang die Unglücklichen, hart zu arbeiten und sparsam zu werden. Popinot verehrten die Armen, aber sie hassten auch Cérizet nicht. Er war das unterste Rad in der Maschine der Pariser Finanzwelt. Oben standen die Häuser Nucingen, Keller, du Tillet, Mongenod; etwas tiefer die Palmas, die Gigonnets, die Gobsecks; noch tiefer die Samanous, die Chaboisseaus, die Barbets; und am Ende, nach dem Pfandleihhause, dieser König der Wucherer, der seine Schlingen an den Straßenecken legte, um alle Arten von Elend, ohne dass ihm eine entging, abzufangen: die Firma Cérizet!
Bei der Erwähnung des Schnürrocks war schon von dem Loch dieses aus seiner Gründung und aus der sechsten Kammer wieder Aufgetauchten die Rede gewesen.
Das Haus war vom Salpeter angefressen, und seine Mauern, die eine übelriechende Feuchtigkeit ausschwitzten, zeigten überall breite Flecken von Schimmel. Es lag an der Ecke der Rue des Postes und der Rue des Poules, und sein Erdgeschoss war von einer Weinhandlung unterster Sorte eingenommen, einem grellrot roh angestrichenen Laden mit roten Schirtingvorhängen, einem bleiernen Schenktisch und schweren Eisenstangen.
Über der Tür zu einem hässlichen Gang hing eine abscheuliche Laterne mit der Inschrift: »Nachtlogis«. Die Mauern waren mit Eisenkreuzen überdeckt, die bewiesen, wie mangelhaft die Standfestigkeit dieses Gebäudes war, das dem Weinhändler gehörte. Außer dem Erdgeschoss bewohnte er noch das Zwischengeschoss. Die Witwe Poiret, eine geborene Michonneau, hielt hier ein Hotel garni im ersten, zweiten und dritten Stock, dessen Zimmer für die Benutzung durch Arbeiter und die ärmsten Studenten eingerichtet waren.
Cérizet hatte einen Raum im Erdgeschoss und einen im Zwischenstock inne, zu dem er über eine innere Treppe gelangte; der Zwischenstock erhielt sein Licht von einem scheußlichen, gepflasterten Hofe, aus dem mephitische Gerüche aufstiegen. Cérizet zahlte der Witwe Poiret für sein Frühstück und Mittagessen vierzig Franken monatlich; er hatte sich so, als ihr Pensionär, die Wirtin verpflichtet und ebenso den Weinhändler, dem er einen enormen Absatz in Wein und Schnaps verschaffte, ein Geschäft, das sich