Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch. Wilhelm RotthausЧитать онлайн книгу.
wie sie nach außen wirken und was andere über sie denken können. Derartige Episoden sozialer Angst sind Teil der normalen Entwicklung. Die Kinder und Jugendlichen bilden in diesen Auseinandersetzungen schrittweise eine eigene Identität aus und eine wachsende Unabhängigkeit von ihren Eltern.
Bei manchen Kindern und Jugendlichen ist die soziale Angst stärker ausgeprägt und anhaltender als bei den meisten Gleichaltrigen. Man spricht dann von Schüchternheit. Diese Kinder neigen dazu, im Kontakt mit Fremden gehemmt und rückzüglich zu reagieren. Sie haben oft die Sorge, dass die Gleichaltrigen sie ablehnen könnten, und sie trauen sich im Kontakt mit ihnen wenig zu. Insofern ähneln sie in ihrem Verhalten solchen Kindern, die als sozialphobisch bezeichnet werden. Schüchterne Kinder sind aber in der Regel bereit zu überprüfen, was tatsächlich bei der Begegnung mit anderen passiert und ob die anderen ihnen nicht doch freundlich gesinnt begegnen.
Von einer sozialen Phobie sollte erst dann gesprochen werden, wenn Kinder oder Jugendliche eine dauerhafte, unangemessene Furcht vor sozialen Situationen oder Leistungssituationen zeigen. In diesen Situationen oder bei ihrer gedanklichen Vorwegnahme treten körperliche Reaktionen auf in Form von Herzklopfen, Zittern, Schwitzen, Erröten, Kälteschauern, Schwächegefühl, Übelkeit und einer veränderten Atmung. Die Kinder und Jugendlichen entwickeln eine Flut negativer Gedanken über eigene Unzulänglichkeiten und die daraus folgenden Schwierigkeiten vor allem im Kontakt mit Gleichaltrigen. Die sozialen Ängste drücken sich beispielsweise aus in Stottern, geringem Augenkontakt und Nägelkauen. Viele Jugendliche glauben, dass die anderen an ihren körperlichen Reaktionen ihre verborgenen Gefühle ablesen können, wodurch sie noch ängstlicher werden und in einen Teufelskreis zunehmender Angst geraten.
Die häufigste Angst von Kindern und Jugendlichen mit sozialer Phobie besteht darin, vor anderen Menschen etwas falsch zu machen: Sie fürchten, dass etwas Peinliches oder Beschämendes geschieht und dass sie für dumm oder schwach gehalten werden. Sie haben Angst, sich in der Schule zu melden, weil sie fürchten, eine falsche Antwort zu geben und ausgelacht zu werden. Sie fürchten Prüfungen in der Schule, das Reden vor einer Gruppe, häufig mit der Folge sinkender Schulleistungen aufgrund mangelnder mündlicher Beteiligung und von Prüfungsängsten. Die Unterhaltung mit Gleichaltrigen wird vermieden aus Angst, nicht mitreden zu können oder verlacht zu werden. In Reaktion darauf werden die Interessen der Gleichaltrigen häufig als »unreif« und »oberflächlich« bewertet, womit die Vermeidung solcher Kontakte gerechtfertigt wird. Ebenfalls wird vermieden, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder zu einer Party zu gehen. Mitunter kann auch die Befürchtung auftreten, in einer bestimmten Situation, beispielsweise beim Einkaufen oder in der Schule, einzunässen. In den meisten Fällen erkennen die Kinder oder Jugendlichen, dass ihre Angst übertrieben oder unbegründet ist.
Im Alter von 8 bis 12 Jahren treten sozialphobische Verhaltensweisen am häufigsten in der Schule auf. Sie betreffen vor allem die dort stattfindenden alltäglichen Bewertungssituationen durch Gleichaltrige und Lehrer (Prüfungssituationen). Sozial ängstliche Kinder sind in der Regel wenig aggressiv, wenig impulsiv und zeigen wenig dissoziale Verhaltensweisen. Sie sind in ihrem Verhalten relativ angepasst und regelorientiert und bringen Erwachsene nicht unter unmittelbaren Handlungsdruck. Manche Kinder und Jugendliche entwickeln »einsame Hobbys« wie das unentwegte Spielen am Computer.
Soziale Phobien im Kindes- und Jugendalter halten oft lange an, auch wenn die Inhalte zuweilen wechseln. Untersuchungen haben nachgewiesen, dass soziale Phobien Erwachsener häufig bereits im Kindes- und Jugendalter begonnen haben.
Generalisierte Angststörung
JONAS, 9 JAHRE ALT, zeigte sich bereits im Kindergarten ängstlich, unsicher und zurückhaltend. In den Folgejahren trat dieses Verhalten immer stärker auf. Der Junge entwickelte eine ängstlich-sorgenvolle Grundstimmung. Seit etwa zwei Jahren reagiert er auf alle neuen Situationen mit Angst und Besorgnis und daraus resultierenden psychosomatischen Beschwerden (Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen und Müdigkeit). Er äußert Angst, die Bezugspersonen zu verlieren, und ständig quält er sich mit dem Gedanken, dass »jederzeit etwas passieren kann«. Darüber hinaus spricht er über seine Angst vor schulischem Versagen, obwohl seine Leistungen in der Schule relativ gut sind. Die Eltern berichten von einem Urlaubsflug nach Tunesien. Schon vor dem Flug habe Jonas Angst geäußert und sei sehr aufgeregt gewesen. Im Flugzeug habe er über Bauchschmerzen geklagt und sich übergeben. Während des zweiwöchigen Aufenthalts in Tunesien sei diese Problematik ab und zu aufgetaucht, wenn sie neue Aktivitäten unternommen und immer wenn sich neue Situationen ergeben hätten. Während des Rückflugs habe er die gleichen Probleme gezeigt. Seitdem betone er immer wieder, dass er zu Hause bleiben und auch nicht mehr zur Schule gehen wolle. Sie, die Mutter, sei inzwischen völlig fertig von den ständigen Fragen, mit denen Jonas sie verfolge. Der Vater habe den Jungen oft beschimpft und ihn aufgefordert, sich endlich zusammenzunehmen. Seit dem ganzen Stress im Urlaub habe er resigniert und lasse sie mit den Problemen allein.
Wenn Kinder und Jugendliche übermäßige und unkontrollierbare Sorgen äußern, sich von diesen Ängsten überwältigt fühlen und Stunden damit verbringen, darüber nachzudenken, was während des vorangegangenen Tages passiert ist und was morgen passieren könnte, spricht man von einer generalisierten Angststörung. Inhalte der Sorgen und Ängste sind die Qualität ihrer Leistungen, die Fähigkeiten in der Schule oder beim Sport, die Pünktlichkeit, Naturkatastrophen wie Erdbeben, der Einschlag eines Kometen, Kriege oder mögliche Fehler, die vorausgesehen werden, und Schwierigkeiten, in die sie geraten könnten. Sie können beispielsweise jeden Tag große Angst davor haben, dass ein Krieg ausbrechen könnte, dass die Eltern vielleicht krank werden und sterben oder sie selbst einen Unfall haben. Wenn diese Kinder einen Fernsehbericht über einen Mordfall anschauen, kann es geschehen, dass sie beginnen, sich darüber Sorgen zu machen, selbst umgebracht zu werden. Sie scheinen nicht zu bemerken, dass ein Eintreten der Ereignisse, über die sie sich Sorgen machen, sehr unwahrscheinlich ist. Die Angst geht zumeist einher mit Ruhelosigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit, Muskelverspannungen und Schlafstörungen.
Die Kinder werden von den Eltern häufig als »Grübler« beschrieben, die der Überzeugung sind, dass sie wenig Einfluss auf den Ausgang einer Situation nehmen können. Manche Kinder verfügen über eine außerordentliche Fähigkeit, sich negative, höchst unwahrscheinliche Umstände einer Gegebenheit vorzustellen. Sie »nerven« Eltern und Lehrer mit ständigen Fragen über zukünftige Ereignisse oder die Beurteilung ihrer Leistungen. Ständig sind sie darum bemüht, Anerkennung und Bestätigung vor allem von Erwachsenen einzuholen. Wenn eine Klassenarbeit ansteht oder ein Referat gehalten werden soll, suchen sie den Schulbesuch zu vermeiden. Oft rufen sie aus der Schule an, klagen über psychosomatische Beschwerden und fordern, von den Eltern abgeholt zu werden. Die Kinder haben wenig Selbstvertrauen und eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung.
Panikstörung
DER 17-JÄHRIGE MAX erlebt seit einiger Zeit immer wieder plötzliche Angstzustände, die ihn in seinem Alltag sehr beeinträchtigen. Er hat dann Kreislaufprobleme, sein Herz fängt an zu rasen, er schwitzt, hat Atemnot und ein Erstickungsgefühl. Zum ersten Mal habe er die Symptome vor einem Jahr gehabt, sodass er mit dem Verdacht auf eine Herzmuskelentzündung ins Krankenhaus gekommen sei. Dort habe man aber bis auf einen leicht erhöhten Blutdruck keine körperlichen Auffälligkeiten feststellen können. Auch nachdem er beim Judo – den Sport betreibt er intensiv seit mehreren Jahren – auf der Matte fast zusammengebrochen sei, habe man keine körperlichen Ursachen feststellen können. Er sei ratlos und wisse nicht, was mit ihm los sei. Er fürchte sich vor diesen Angstzuständen, die völlig unvermittelt auftreten würden und so heftig seien, dass er Angst habe zu sterben. Inzwischen könne er nachts nicht mehr allein sein. Er nehme bei sich im Übrigen eine schnellere Ermüdbarkeit wahr und fühle sich durch seinen Körper »wie ausgebremst« und überhaupt sehr verunsichert. Viele Entscheidungen traue er sich nicht mehr zu.
Als Panikstörung werden zeitlich begrenzte Episoden akuter Angst bezeichnet. Charakteristisch ist das plötzliche, oft als nicht vorhersehbar erlebte Auftreten von Herzklopfen, Schwitzen, Atemnot und Erstickungsgefühl, Schwindel, Durchfall