Sprechen über Sex. Karina Kehlet LinsЧитать онлайн книгу.
erscheinen, denn wie sich später herausstellen wird, ist unklar, worin der therapeutische Anteil in einem Gespräch über Sexualität genau besteht und was in der Sexualtherapie, d. h. in der sexologischen Beratung und Behandlung, grundsätzlich anders sein soll als in anderen psychotherapeutischen Richtungen. Insofern ist die Frage naheliegend, warum Psychologen und Psychotherapeuten sexuelle Themen nicht bereits in viel höherem Maße in ihre Behandlungen einbeziehen, als dies derzeit der Fall ist.
Im Rückspiegel
Bis weit in die 1960er-Jahre wurden sexuelle Probleme überwiegend in Einzeltherapien mit psychoanalytischem Ansatz behandelt. Freud war noch immer der wichtigste Bezugspunkt. Erst dem Ende der 1960er-Jahre entwickelten verhaltenstherapeutischen Ansatz gelang es, diesen zunehmend zu ersetzen (Møhl 2017a). Die bekannteste und bahnbrechende Studie in der Sexualwissenschaft stellt wahrscheinlich William Masters’ und Virginia Johnsons Veröffentlichung Human Sexual Response von 1966 (dt. Die sexuelle Reaktion [1967]) dar. Nach vielen Jahren der Forschung beschreiben die Autoren einen sexuellen Reaktionszyklus des Menschen, der aus vier Phasen besteht: Erregungsphase, Plateauphase, Orgasmus und Rückbildungsphase. Dieser sexuelle Reaktionszyklus wurde als das normale, ungestörte und gesunde Muster menschlicher Sexualität verstanden, und sexuelle Schwierigkeiten wurden Problemen während einer dieser Phasen zugeschrieben (Clement 2004). Masters’ und Johnsons Arbeit brachte die Sexualtherapie in Schwung, und das nachfolgende, 1970 erschienene Buch, dt. Impotenz und Anorgasmie. Zur Therapie funktioneller Sexualstörungen (1973), bildet auch heute noch die Grundlage dafür, wie viele Therapeuten sexuelle Probleme behandeln.
Masters’ und Johnsons Standpunkte haben jedoch seither in Fachkreisen Kritik erfahren, und die Behandlungsformen innerhalb der Sexualtherapie sind nuancierter geworden. Beispielsweise wurde der verhaltenstherapeutische Ansatz, für den Masters und Johnson bekannt sind, in eine psychodynamische Theorie integriert, um ein umfassenderes Verständnis der komplexen Problemstellungen zu ermöglichen, die die Klienten mitbringen (Møhl 2017a). Dennoch wurden Masters und Johnson auch von vielen in ihren Ansichten unterstützt. Sie haben den Mythos von der Unterscheidung zwischen »unreifen« klitoralen Orgasmen und »reifen« vaginalen Orgasmen bei Frauen demontiert, der ein Überbleibsel aus der viktorianischen Ära und nicht zuletzt eine Folge von Freuds Einstellung zur Sexualität von Frauen darstellte. Auch die Überzeugung, dass Männer und Frauen sexuell sehr unterschiedlich seien, wurde entkräftet. Dennoch ist Masters‘ und Johnsons Einfluss in der Sexualtherapielandschaft auch weiter nachhaltig spürbar. So orientieren sich die Diagnosen von heute nach wie vor an dem von ihnen beschriebenen sexuellen Reaktionszyklus ebenso wie die Auflistung der sexuellen Dysfunktionen, die in der Fachliteratur beschrieben werden.
Sexuelle Dysfunktionen umfassen verschiedene Formen der fehlenden Fähigkeit, gewünschte sexuelle Handlungen auszuführen, und können in verschiedenen Phasen auftreten:
Lustphase: geringe/fehlende Lust oder erhöhte Lust
Erregungsphase: mangelnde Lubrikation, Erektionsstörung / erektile Dysfunktion
Plateauphase: vorzeitiger Samenerguss / Ejaculatio praecox
Orgasmus: fehlender Orgasmus, verzögerter/ausbleibender Samenerguss und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr
(Scheidenkrampf/Vaginismus, Dyspareunie)
(Leiblum 2007)
Der Begriff »Sexualtherapie« an sich wurde sogar oft mit der 1970 erfolgten Veröffentlichung der englischsprachigen Originalausgabe von Impotenz und Anorgasmie. Zur Therapie funktioneller Sexualstörungen (Masters a. Johnson 1973) verknüpft, was leider dazu führte, dass die Sexualwissenschaft zunehmend als eigene Schule betrachtet wurde, und dies, obwohl Masters und Johnson geradezu betont hatten, dass die Sexualität in einem engen Zusammenhang mit anderen Lebensbereichen des Klienten zu betrachten sei. Die Autoren beurteilten die strenge Unterscheidung zwischen Sex und anderen Bereichen des menschlichen Daseins als eine unreflektierte Angewohnheit und waren zugleich der Ansicht, dass eine statistische Zusammenfassung der sexuellen Erfahrungen des Klienten nutzlos sei. Eine derart eingeschränkte Sichtweise löse die sexuellen Funktionen aus ihrem Zusammenhang. Um dem entgegenzuwirken und auch relationale Faktoren zu berücksichtigen, sei zum Beispiel in einer Partnerschaft die Einbeziehung des Partners in die Therapie sinnvoll.
Die Sexualwissenschaft – mehr als die Summe der einzelnen Teile
Diese Umstände haben dazu geführt, dass die Sexologie sich zu einem Spezialgebiet entwickelt hat, obgleich der Titel »Sexualtherapeut« nicht geschützt ist und es in der Sexualtherapie keine grundlegend anderen Methoden gibt als in anderen psychotherapeutischen Schulen. Die meisten Interventionen, derer sich Sexualtherapeuten bedienen, stammen aus der kognitiven Verhaltenstherapie und der systemischen Therapie wie die Psychoedukation, Sinnlichkeitsübungen, Kommunikationsübungen, langsam zunehmende vaginale Penetration mit Entspannungsübungen und Paartherapie (siehe z. B. Leiblum 2007). Die Techniken sind höchstens insofern einzigartig, als sie meistens innerhalb eines sexologischen Rahmens angewandt werden und in normalen Gesprächen über das gesundheitliche Befinden keinen Platz finden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies tatsächlich für eine Betrachtung der Sexologie als gesonderten Ansatz ausreicht, insofern ja die Interventionen sich nicht von denen anderer Psychotherapien unterscheiden (Binik a. Meana 2009).
Problematisch ist auch, dass es innerhalb der Sexualtherapie keinen Konsens darüber gibt, welche Methoden am besten geeignet sind. Therapeuten, die beispielsweise mit einem psychodynamischen Ansatz arbeiten, könnten ihre Interventionen als den übrigen überlegen darstellen, während andere Therapeuten wiederum unterschiedliche Gesichtspunkte hervorheben würden. Gleichzeitig fehlt es auf diesem Gebiet an Forschung und Dokumentationen, die die differierenden Behauptungen bestätigen könnten. Der Forschungsmangel in der Sexualwissenschaft gilt ganz allgemein (siehe z. B. Rosen 2007). Es gibt kaum Untersuchungen über die Wirkung psychotherapeutischer Maßnahmen in der Sexualtherapie, und die Erkenntnisse darüber, was ein gutes Ergebnis einer Behandlung ausmachen würde, sind noch immer unzureichend. Darüber hinaus ist es schwierig, die weniger »fassbaren« Werte in klinischen Studien zu messen, beispielsweise ein besseres Verständnis dessen, wodurch ein gutes Sexualleben befördert oder verhindert wird (Giraldi a. Wåhlin-Jacobsen 2016). Außerdem ist problematisch, dass wir gelernt haben, Sexualität oft ausschließlich als ein Verhalten zu betrachten, bei dem das physische Element eine herausragende Rolle spielt. Die Frage, ob »der Apparat funktioniert«, gerät in den Mittelpunkt, ähnlich wie man in der Populärwissenschaft häufig darauf fixiert ist, wie oft der Geschlechtsverkehr statistisch gesehen ausgeübt wird und welche Stellungen dabei eingenommen werden. Möchte man aber tatsächlich die Sexualität eines Menschen verstehen, ist die Einbeziehung der psychologischen und kulturellen Prozesse, die unser Verhalten beeinflussen, ausschlaggebend (Nagoski 2015).
Die Vielfalt der Sexualität wird deutlich, wenn man sich die Definition der WHO ansieht (siehe S. 17) und einige der Funktionen betrachtet, die Sex haben kann. In der Literatur zum Thema werden beispielsweise die sechs »R« genannt: 1) Reproduktion, 2) Relation (Beziehung), 3) Respekt, 4) Rekreation (Erholung), 5) Rehabilitierung und 6) Relaxation (Entspannung). Obgleich die reproduktive Funktion eine wichtige Rolle spielt, werden die psychologischen Wirkungen hoch bewertet (Møhl 2017a). Die Beweggründe für sexuelle Aktivität sind also vielschichtig. Die Forscher Meston und Buss (2007) haben in einer Studie Informanden nach ihren Motiven für sexuelle Handlungen befragt und dabei nicht weniger als 237 verschiedene Gründe herausgearbeitet. Sie haben diese in vier Motivkategorien eingeteilt, d. h. in physische (z. B. Stressreduktion), zielgerichtete (z. B. soziales Ansehen, Rache) und emotionale Beweggründe (wie Liebe oder Bindung) sowie Unsicherheit (z. B. zur Verhinderung des Partnerverlusts). Im Übrigen stellten die Forscher fest, dass es zwischen Männern und Frauen keine nennenswerten Unterschiede gab, beiden Gruppen waren 20 der 25 meistgenannten Motive gemeinsam.
Die Sexualität wird also durch ein dynamisches Zusammenspiel von biologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen