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Finnische Träume | Roman. Joona LundЧитать онлайн книгу.

Finnische Träume | Roman - Joona Lund


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– die Lehrerin bezeichnete die tiefgreifenden Veränderungen nüchtern als normalen Reifeprozess –, dass Jan seine burschikose kumpelhafte Art ablegte und sie vielleicht sogar eine Spur höflicher behandelte als andere, sich manchmal sogar altmodisch ritterlich gebärdete. Neu war, dass seine Augen oft suchend umherschweiften und aufblitzten, sobald er sie entdeckte. Manchmal ruhte sein Blick nachdenklich fragend auf ihr, als suchte er nach einer Antwort, die nur sie geben könnte. Gegen ihren Willen stieg ihr Röte ins Gesicht, wenn sich ihre Blicke kreuzten, und er grinste.

      Es gab Tage, da er schroff und abweisend war, sie anherrschte, als wollte er sie absichtlich verletzen. Zog sie sich zurück, kam er an und sagte, es täte ihm leid, manchmal ritt ihn der Teufel. Leise fügte er hinzu, es würde die Zeit kommen, da sie verstehen würde, was in ihm vorginge. Ging sie nicht gleich auf den Versöhnungsversuch ein, beschwerte er sich, sie brauchte nicht so kratzbürstig zu sein. Sie zuckte die Schultern, antwortete, wie man in den Wald hineinrief, so tönte es zurück.

      Seine plötzlichen und unbegründeten Launen ärgerten sie, weil sie öfter die Ursache für Sticheleien und Streit wurden, und zu seinem sonstigen Verhalten in krassem Missverhältnis standen. Die gereizte Atmosphäre fiel auch Mutter auf, sie fragte, warum er so hässlich zu ihr sei, sie hätten sich doch bisher gut verstanden. Jan schwieg verstockt und Inku meinte, ihn dabei aus den Augenwinkeln musternd, es ginge nicht in seinen Schädel hinein, dass sie erwachsen würde.

      Jan stieß ein verächtliches »Ha!« aus, fügte hinzu: »Dass ich nicht lache: erwachsen!«

      Schon wollte sie kontern, da wurde sie gewahr, dass seine Blicke anderes ausdrückten als seine Worte, sie schluckte und schwieg. Bisweilen hegte sie den Verdacht, er behandelte sie manchmal, als wäre sie Luft, um sie zu provozieren. Nachdem ihn Mutter zurechtgewiesen hatte, es gehörte sich nicht, mit Mädchen in ihrem Alter zu raufen, balgten sie sich seltener. Doch sie reizte ihn nach wie vor, obwohl sie wusste, dass er grantig wurde, wenn sie ihn beim Schreiben eines Artikels störte.

      Einmal klaute sie ihm den silbernen Kugelschreiber mit den eingravierten Initialen, mit dem er eben noch geschrieben hatte und lief in ihr Zimmer, hielt die Tür zu. Er stemmte sie mit der Schulter auf, sie steckte den Stift in den Ausschnitt, grinste siegessicher, als er sich abwandte. Sie war nicht darauf gefasst, als er sich ruckartig umdrehte, ihre Hände packte, sie mit einer Hand zusammenpresste und ihr mit der anderen unter den BH griff. Doch als seine Finger ihren Busen berührten – das empfand sie keineswegs als unangenehm – ließ er los und verließ das Zimmer. Kichernd kam sie nach und warf den Kuli auf den Schreibtisch.

      Half er ihr bei den Aufgaben, merkte sie, dass er auf einmal vermied, ihr nahe zu kommen. Und als sie anfangs heimlich, später mit seinem Wissen, sein Tagebuch las, verstand sie, wie genau er sie beobachtet hatte: Wie sie sich bewegte, lachend ihren Zopf nach hinten warf oder aufstand, um etwas zu holen. Und sie fand den Hinweis, dass sich seine Gedanken verhedderten, wenn sie sich zu nahe kamen und ihm ihr Geruch in die Nase stieg, er sich dann zur Ordnung rufen musste.

      Schon lange hatte sie vermutet, dass er Tagebuch schrieb. Trat sie überraschend ins Zimmer, schob er hastig ein Heft in die Schublade. Das ließ ihr keine Ruhe und als er in der Schule war und sie frei hatte, ließ sie suchend ihren Blick in seinem Zimmer umherschweifen und überlegte, wo er es versteckt hätte, fand es schließlich unter der Matratze.

      Kam sie mit ihrer um zwei Jahre älteren Freundin zusammen – gleichaltrige fand sie kindisch – schilderte diese ihre Erfahrungen mit Jungen, auch das, was in Romanen meist angedeutet wird. Dabei kam Inku die Idee, auszuprobieren, wie Jan auf ähnliche Herausforderungen reagieren würde, er traute einer dreizehnjährigen Göre garantiert nicht zu, sich so etwas auszudenken.

      Betrachtete sie sich im Spiegel, fand sie sich hübsch und zweifelte nicht daran, dass sie ihm gefiel, wollte es aber von ihm hören. Und plötzlich begriff sie, dass sie nur ihm und niemandem sonst gefallen wollte und dass sich das schon lange so verhielt. Ihre Gedanken kreisten ständig um ihn, das war mehr als die übliche Schwärmerei eines Mädchens, das in einem entlegenen Weiler wohnte und abgesehen von Schule und Fahrt im Schulbus wenig Gelegenheit hatte, andere Jungen kennenzulernen, vor allem solche, die ihr zusagten. Fragte sie sich, was Jan auszeichnete, fiel ihr zunächst – sah sie vom Äußeren ab, das manches Mädchen zum Schwärmen brachte – sein ruhiges selbstbewusstes Auftreten ein. Obwohl er den meisten Gleichaltrigen überlegen war, blieb er bescheiden und verfügte über eine Ausstrahlung, der sich kaum jemand entziehen konnte, wer mit ihm zu tun hatte. Und es gefiel ihr, dass er sich nicht darum kümmerte, wie er bei anderen ankam. Sie schätzte es, dass er sich nach der Arbeit die Hände wusch und duschte, wenn er verschwitzt war. Beim Mittagessen in der Schule hatte sie gesehen, dass manche Jungen keine Tischmanieren hatten. Einem, der glaubte, er sei der Schönste, hatte sie ins Gesicht gesagt, sie wollte nicht neben jemandem sitzen, der aß wie ein Schwein, da käme ihr das Essen hoch.

      Mit Jan konnte sie über alles reden, ohne dass er seinen altersgemäßen Wissensvorsprung hervorkehrte. Er hatte sie als kleines Mädchen angefeuert, das Wissen zu erweitern und Gespräche mit Erwachsenen bestätigten, dass die Saat aufgegangen war. Sie hätte noch viele Gründe aufzählen können, doch ausschlaggebend war ein in den letzten Monaten entstandenes eigenartiges Gefühl, das sie mitunter glauben ließ, sie könnte fliegen, wenn sie es nur richtig wollte. Seit sie Grund hatte, anzunehmen, Jans suchender Blick galt nicht so sehr der Schwester, auf die er Acht geben sollte, sondern der heranwachsenden Frau, ahnte sie, dass sich seine Gefühle ebenfalls gewandelt hatten.

      Mancher Vorfall bewies, dass sich nicht nur sein Verhalten geändert hatte, indem er mehr auf sie einging, sondern dass er sie nicht mehr als Neutrum betrachtete. Das hatte die Badezimmerszene gezeigt, als sie auf der Waage gestanden, einen Schrei ausgestoßen hatte und er mit der Frage hereingestürzt kam, ob sie sich verletzt hätte. Im Höschen auf der Waage stehend hatte sie sich umgedreht und während sie herausgesprudelt hatte, sie wiege ein halbes Kilo mehr, hatte sie registriert, dass seine Blicke mit einem Ausdruck auf ihren Brüsten ruhten, der sie erschreckte, aber auch frohlocken ließ. Die Szene hatte nur Sekunden gedauert, doch an seinen weit aufgerissenen Augen hatte sie etwas Neues gesehen. Etwas, das sie beunruhigte und nicht zu benennen wagte, aber aus Romanen wusste, was es war. Sie hatte sich ein Handtuch vorgehalten und war sich dennoch so nackt vorgekommen wie nie zuvor. Sein Blick und das aufgeregte Stottern, sie sei eben im Wachsen, da nähmen alle zu, sowie sein Hinauseilen hatten seine Irritation offenbart. Nachdenklich hatte sie sich angezogen und überlegt, ob sein überstürztes Wegrennen auf Überraschung zurückzuführen war oder weil er sie in einem anderen Licht sah und sich das nicht eingestehen wollte. Und als sie sich an seinen Ausspruch erinnerte, ihm gefielen eher mollige Mädchen, während er dürre hässlich fände, drehte sie sich vor dem Spiegel und lächelte sich zu. Deutlich zeichneten sich die Wangengrübchen ab, die er so mochte, wie er ihr auf der Baumhütte gestanden hatte. Und er hatte auch gesagt, ihr Lachen beim ersten Zwitschern der Vögel im Frühling müsse man einfach gern haben. Sie hatte ihm einen Schmatz auf die Wange gedrückt und sein warmes Lächeln hatte sie froh gestimmt.

      In einem ihrer Lieblingsromane hatte sie den Satz gefunden, das Lächeln einer Frau sei ein Versprechen. Die Formulierung hatte ihr gefallen und vor dem Spiegel fand sie, ihr Lächeln war von der Sorte, wenn sie an ihn dachte.

      Seit der Badezimmeraffäre, die irgendwie mit dem Beginn der Menstruation zusammenhing, hatte sich ihre Position grundlegend verändert. Der Gedanke berauschte sie, nun über Mittel zu verfügen, um ihn aus der Reserve zu locken und sein Blut in Wallung zu bringen. Wieder ein Ausdruck aus einem Roman, der ihr gefallen hatte. Er war voller Kraft und Saft. Im gleichen Buch stand, Neugier sei eine der stärksten Antriebskräfte des Menschen. Und als sie bei ihm Nabokovs »Lolita« gefunden – er hatte das Buch so schlampig versteckt, dass zu vermuten war, sie sollte es finden – und darin geschmökert hatte, nahm sie sich vor, ihre Möglichkeiten auszureizen.

      Gelegenheit dazu ergab sich bereits am Abend, als sie es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich machte und las. Mutter schimpfte zwar ab und zu, dass sie so viel unnützes Zeug lese, aber Inku war in der Schule gut und Mutter hätte als Mädchen selbst gern gelesen, doch immer hatte es geheißen, dies oder jenes sei noch zu erledigen.

      Jan saß am Tisch, ein Lehrbuch vor sich, erklärte, es sei so geschrieben, dass er jeden


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