Toni der Hüttenwirt Classic 38 – Heimatroman. Friederike von BuchnerЧитать онлайн книгу.
in der ersten Etage. Es dauerte eine Weile, bis sie ganz wach war. Mit einem Ruck sprang sie aus dem Bett und rannte ins Badezimmer.
Den Lärm, den die große schwere Bibel mit dem Goldschnitt machte, als sie vom Bett auf den Boden fiel, überhörte Julia.
Das Buch auf dem Fußboden fiel Julia erst auf, als sie fertig angezogen war. Bevor sie zum Frühstück hinunterging, legte sie immer ihr Bettzeug zum Lüften über einen Stuhl am Fenster.
»Ach ja, die wollte ich ja noch hinüberbringen in den Altenteil!« sagte Julia leise vor sich hin.
Sie hob die Bibel auf. Sie war alt, sehr alt, über einhundert Jahre.
»Oh, jetzt ist sie auseinandergefallen!« bedauerte Julia. »Na ja, vielleicht kann ich sie kleben.«
Sie klemmte die Bibel unter den Arm und ging in die Küche. Schnell machte sie sich das Frühstück. Dabei betrachtete sie die alte Bibel, die auf dem Küchentisch lang. Die schwarzen Buchdeckel waren abgegriffen, die Ecken geknickt. Das Blattgold des Goldschnittes leuchtete an einigen Stellen, während es an anderen Stellen sehr abgegriffen war.
Julia war mit dem Frühstück zu Ende. Sie schob ihren Teller zur Seite und griff nach der Bibel. Sie machte sich Gedanken, wie sie den eingerissenen Buchdeckel der Rückseite wieder befestigen könnte. Julia holte durchsichtiges, breites Klebeband aus dem Küchenschrank und klebte außen über den Riß ein langes Stück. Sorgfältig drückte sie den Klebestreifen fest. Er hielt. Die überstehenden Ränder schlug sie nach innen und drückte sie auch an.
Als sie damit fertig war, begann Julia die Seiten mit der Chronik durchzublättern. Schon als Kind hatte sie das gern getan. In der Chronik waren alle Ereignisse der Familiengeschichte aufgeschrieben, seit der Zeit, als die Bibel in die Familie Grundmayr gekommen war.
Julia überlegte einen Augenblick. Dann entschloß sie sich, selbst einen Eintrag vorzunehmen. Sie holte den Füllhalter aus ihrem Zimmer. Sie schlug die letzte Seite auf. Ihr Vater hatte dort den Todestag ihrer Mutter notiert. Die Seite war voll. Julia blätterte um. Sie schrieb den Namen ihres Vaters und seinen Todestag. Dahinter schrieb sie, daß er nach einem Sturz vom Pferd gestorben war. Die Tinte trocknete auf dem alten Papier nur langsam. Julia griff nach der nächsten Seite, hob sie an und bewegte sie hin und her, damit die Tinte auf dem gegenüberliegenden Blatt von der Luftbewegung schnell trocknen sollte.
Dabei sah sie, daß auf der Rückseite des Blattes etwas geschrieben stand.
Ihr Vater hatte einen Eintrag gemacht. Julia starrte auf das Papier. Ihr Herz klopfte. Es war eindeutig die Handschrift ihres Vaters. Er hatte den Eintrag erst vor wenigen Monaten vorgenommen.
Julia spürte einen Kloß im Hals, als sie die Zeilen las.
Das konnte doch nicht sein!
Warum hatte ihr Vater nicht mit ihr darüber gesprochen?
Nein, das kann nicht sein, dachte Julia. Doch im selben Augenblick wußte sie, daß es die Wahrheit sein mußte. Ihr Vater hätte es sonst nicht in die Bibel geschrieben.
Julia drehte sich alles im Kopf. Ihr schwindelte. Ihr wurde heiß, dann lief ihr wieder ein kalter Schauer über den Rücken. Ihre Hände zitterten leicht. Sie war blaß geworden. In Gedanken ging sie blitzschnell die vielen fremden Gesichter durch, denen sie nach der Beerdigung die Hände geschüttelte hatte.
War er dabei gewesen?
Wußte er es?
Warum weiß ich nichts davon?
Vater, warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?
Vater, wie konntest du mir dies verschweigen?
Julia verschränkte die beiden Arme über die offene Seiten und legte den Kopf darauf, als könnte sie dadurch in die Botschaft hineinhören. Ihr Herz klopfte stark. Sie versuchte gleichmäßig zu atmen und sich zu beruhigen. Es gelang ihr nur langsam.
Endlich, nach fast eine halben Stunde, hatte sich Julia wieder etwas beruhigt.
Ich muß den Tatsachen ins Auge sehen, dachte sie. Ob Tante Else etwas von dieser Franka Dillinger und ihrem Sohn Max wußte? Doch wenn sie es wußte, warum hatte ihr die Tante das verschwiegen? Zu Lebzeiten des Vaters konnte sie vielleicht nicht darüber sprechen, weil Vater es nicht wollte, bedachte Julia. Doch jetzt nach der Beerdigung hätte sie doch mit mir darüber sprechen können.
Julia überlegte.
Tante Else wußte sicherlich nichts davon, sonst hätte sie es getan. Das entschied Julia. Danach überlegte sie, welche Konsequenzen diese Entdeckung für sie selbst hatte.
Ich bin nicht mehr alleine. Ich habe einen Halbbruder, der nur wenige Tage älter ist als ich.
Die nächste Erkenntnis drängte sich unmittelbar in Julias Gedanken. Dann gehört mir der Hof nicht alleine. War es nicht so? Julia beneidete schon als Kind ihre Freundinnen, die Geschwister hatten. Jetzt war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen.
»Mein Gott! Das muß wirklich wahr sein! Ich muß einen Halbbruder haben. Er heißt Max Dillinger und ist in Waldkogel geboren«, flüsterte Julia leise vor sich hin.
Noch einmal las sie den Eintrag ihres Vaters. Da standen der Name, das Geburtsdatum, der Name der Mutter und der Name des Vaters.
Vater hat einen unehelichen Sohn seit fünfundzwanzig Jahren. Gab es da ein dunkles Familiengeheimnis? Je länger Julia darüber nachdachte, desto neugieriger wurde sie.
Sie klappte die Bibel zu. Sie brachte sie hinüber ins Altenteil und verschloß sie in der großen Truhe. Sorgfältig drehte sie den Schlüssel im Kastenschloß an der Truhe herum und zog ihn ab. Als Zeichen, daß sie jetzt die Bäuerin auf dem Hof war, trug Julia einen Schlüsselbund in der Schürzentasche. Sie fädelte den Schlüssel auf den Schlüsselring und steckte den Schlüsselbund wieder ein. Die Hand in der Schürzentasche, den Schlüsselbund fest umklammert, verließ Julia das Altenteil.
Den ganzen Tag versuchte sie sich ihren täglichen Pflichten zu widmen. Doch das gelang ihr nur mit Mühe. Immer und immer wieder glitt ihre Hand in die Tasche ihrer Dirndlschürze und umklammerte den Schlüsselbund, als wollte sie damit etwas festhalten.
Wie würde Max sein?
Wie sieht er aus?
Sieht man die Ähnlichkeit zu mir?
Als mein Halbbruder muß er wohl eine Ähnlichkeit mit mir haben, oder?
Die Neugierde, sich ihren Bruder wenigstens einmal aus der Ferne anzusehen, wuchs und wuchs und wuchs. Julias Gedanken kreisten nur noch darum, wie sie es anstellen könnte, mit ihm unverfänglich in Kontakt zu kommen. Julia machte einen Plan. Sie verwarf ihn wieder. Sie überlegte und überlegte. Eine Idee nach der anderen kam ihr. Im Telefonbuch von Waldkogel hatte sie schon nachgeschaut. Es gab dort einige Einträge mit dem Namen Dillinger. Ein Max Dillinger oder eine Franka Dillinger waren aber nicht verzeichnet.
Vielleicht hat diese Franka Dillinger später einen anderen Mann geheiratet, überlegte Julia. Sicherlich war es vor fünfundzwanzig Jahren als uneheliche Mutter nicht einfach. Doch welcher Mann würde damals eine Frau mit einer solchen Schande ehelichen. Außerdem stand der Namen Franka Dillinger als Namen der Mutter dabei. Wenn sie geheiratet hatte, warum vermerkte das Vater nicht? Vielleicht ist sie mit ihrem Kind auch fortgezogen. Diese Möglichkeit gab es auch.
Am späten Nachmittag hielt es Julia nicht mehr aus. Sie mußte handeln. Sie wollte Gewißheit. Hinzu kam, daß ihr Vater erst vor wenigen Monaten den Eintrag in die Familienbibel vorgenommen hatte. Julia wertete es als ersten Schritt ihres Vaters, sein Leben zu ordnen. Sicherlich hätte er mit ihr eines Tages darüber gesprochen.
Julia erinnerte sich an ihren Vater als einen ehrlichen und gewissenhaften Menschen. Sie wurde immer sicherer, daß er mit ihr geredet hätte.
Was hätte ich ihm geantwortet?
Was hätte ich dann getan?
Ich hätte darauf bestanden, daß er versuchen sollte, das gemachte Unrecht zu mildern. Sicherlich konnte mit Geld und Zuneigung nach fünfundzwanzig