Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. DahlhausЧитать онлайн книгу.
Beziehung, was ja beim Wechsel von Bezugspersonen recht häufig notwendig ist – immer wird es das Loslassen von Vertrautem beinhalten und den Mut zu Neuem erfordern, den Mut des Betroffenen, aber auch den der Begleiter.
Erika, eine 34-jährige Frau mit Down-Syndrom und leichter Intelligenzminderung, lebte seit 15 Jahren in einer Lebensgemeinschaft. Sie lernte einen Mann aus einem benachbarten Dorf kennen, einen Arbeiter ohne Intelligenzminderung – wie sich später zeigte, ein Alkoholiker. Nach langem Ringen und Widerständen der Mitarbeitenden in der Einrichtung und der rechtlichen Betreuerin wurde ihr zugestimmt, zu ihm zu ziehen. Wenig später erlitt er einen Schlaganfall. Sie pflegte ihn ein Jahr lang bis zu seinem Tod. Dann gliederte sie sich im Rahmen eines betreuten Einzelwohnens wieder an die Gemeinschaft an. Beeindruckend war ihre gerade auch in dieser herausfordernden Zeit erworbene tiefe Reife und Persönlichkeitsentwicklung sowie eine neue Eigenständigkeit, die sie im Weiteren prägte.
beeinträchtigte Entfaltung der Biografie
Das »Verpassen« der eigenen Biografie, möglicherweise bedingt durch die Angst vor dem Schritt in etwas Neues hinein, kann etwas Schmerzliches sein. Und es kann die Ursache seelischer Krisen und seelischer Erkrankungen darstellen. Nicht nur, aber gerade auch depressive Zustände können Folge einer verhinderten oder beeinträchtigten Entfaltung der Biografie sein.
In bedrängender Weise schildert Franz Kafka dies in mancher seiner Kurzgeschichten: beispielsweise wie ein Mensch vor einer Tür stehen bleibt, die nur für ihn selbst bestimmt ist und vor der ein »Wächter« (vielleicht die Personifizierung der Angst?) steht, der vermeintlich den Eintritt verwehrt – aber eigentlich ist diese Tür offen und bereit, durchschritten zu werden.10
Biografiearbeit als Hilfe
Biografiearbeit als adäquate Form der Psychotherapie
In der Sozialtherapie kann diese Aufmerksamkeit auf mögliche individuelle wie übergeordnete Entwicklungsschritte und die Hemmnisse davor wesentlich sein. »Biografiearbeit«, d. h. die Reflexion der individuellen Vergangenheit einer Person unter Berücksichtigung allgemeingültiger biografischer Rhythmen, stellt oft ein wesentliches, hilfreiches therapeutisches Mittel dar. In der Biografiearbeit kann ein Bewusstsein für den eigenen Lebensweg entwickelt werden. Menschen mit Intelligenzminderung können hier, wenn sie entsprechend unterstützt werden, erleben: »Ja! Ich bin auf einem Weg – und zwar auf meinem!« Das kann dann ermöglichen, im Fluss des eigenen Lebens nicht nur mitzuschwimmen, sondern auch einmal herauszutreten, um den Fluss vom Ufer aus zu betrachten. Oder bei der Wanderung auf dem eigenen Lebensweg über schwindelnde Höhen und durch tiefe Abgründe, durch weites und offenes, helles Gelände und durch finstere Schluchten einmal innezuhalten und einen Turm zu besteigen. Und von dort aus kann dieser Lebensweg rück- und vielleicht auch vorausblickend angeschaut werden. In diesem Sinne ist Biografiearbeit oft eine sehr adäquate Form der Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung.11
SEO – Sozio-emotionaler Entwicklungsstand
Das »biologische« Lebensalter ist nur begrenzt aussagefähig, was das Verstehen von Menschen mit Assistenzbedarf betrifft. Von deutlich höherer praktischer Relevanz ist die Berücksichtigung des verfügbaren Intelligenzniveaus sowie insbesondere der jeweiligen sozio-emotionalen Entwicklung. Häufig stehen diese beiden Ebenen in einem unmittelbaren Bezug zueinander.
Skala der emotionalen Entwicklung
Der holländische Psychiater Professor Anton Došen hat diesen Aspekt aufgegriffen und ein auf entwicklungspsychologischen Theorien basierendes Konzept entwickelt, eine Skala der emotionalen Entwicklung (SEO – Schema van Emotionele Ontwikkeling). Er geht dabei von der durchschnittlichen Entwicklung und den sozio-emotionalen Reifungsschritten von Kindern aus und überträgt dies mit erheblichem Erkenntnisgewinn auf Menschen mit Assistenzbedarf bzw. Intelligenzminderung, aufgebaut auf erreichte Stufen der emotionalen Entwicklung.
Oft fällt in der Beschreibung von Menschen mit Intelligenzminderung in bestimmten Lebenssituationen der Begriff »kindlich« auf, ergänzt durch die Feststellung einer »Überforderung«, oder wir finden Hinweise auf die verfügbare – oder eben nicht verfügbare – Reife.
Beziehungsbedürfnisse
Der hier geschilderte Ansatz des emotionalen Alters oder auch des sozioemotionalen Entwicklungsstandes geht von den Beziehungsbedürfnissen eines Menschen aus, d. h. von seinen Bedürfnissen in Bezug auf die Beziehungsgestaltung. Diese sind phasenspezifisch, sie verändern sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen eines Menschen. Und es bedarf eines differenzierten entwicklungspsychologischen Fachwissens, um diese jeweils dominierenden Beziehungsbedürfnisse hinreichend zu erkennen.
fünf Phasen
Der Ansatz von Anton Došen und seinen Mitarbeitern differenziert nun zunächst fünf Phasen und unterscheidet darin die Beziehungsbedürftigkeit eines Säuglings bzw. Kleinkindes im Alter bis zu 6 Monaten, bis zu 18 Monaten, dann bis zu 3 Jahren, bis zu 7 Jahren und bis zum Lebensalter von 12 Jahren. Diese Phasen bilden die Kategorien SEO I bis V:
SEO I: | 0 bis 6 Monate: erste Adaptation, |
SEO II: | 6 bis 18 Monate: erste Sozialisation, |
SEO III: | 1 ½ bis 3 Jahre: erste Individuation, |
SEO IV: | 3 bis 7 Jahre: erste Identifikation, |
SEO V: | 7 bis 12 Jahre: Entwicklung von Realitätsbewusstsein. |
Verständnis durch Wissen um Beziehungsbedürfnisse
Dieses Konzept wird ständig weiterentwickelt und hat insbesondere als sogenanntes SEED eine vereinfachte Handhabbarkeit erlangt.12 Im Folgenden soll dieser Ansatz, der die Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf insbesondere im Zusammenhang mit herausforderndem Verhalten fördern und erleichtern soll, kurz dargestellt werden.
Der Grundgedanke ist, dass Menschen mit Intelligenzminderung aus ihren phasenspezifischen Beziehungsbedürfnissen heraus entsprechend ihrer sozio-emotionalen Entwicklung verstanden werden können. Dazu ist ein Wissen über die generellen Entwicklungsstufen nötig. Im heilpädagogischen wie im sozialtherapeutischen Alltag können »Entwicklungsverzögerungen« auf diese Weise konkret und differenziert beschrieben werden, sodass es möglich wird, auf diesem Fundament ein geeignetes therapeutisches Milieu zu gestalten.
Die vollständige korrekte Anwendung dieses Ansatzes bedarf einer spezifischen Vorbereitung sowie unter anderem eines strukturierten Interviews.13
Trotzdem sollen hier kurz einige grundlegende Gesichtspunkte genannt werden, die ausgesprochen hilfreich für das Verständnis der Entwicklungsphasen von Menschen mit Assistenzbedarf sein können.
Dazu lösen wir uns vom tatsächlichen biologischen Lebensalter und versuchen, das emotionale Entwicklungsalter beobachtend zu verstehen – vornehmlich unter dem Aspekt der jeweiligen Beziehungsbedürftigkeit.
sensibel für atmosphärisches Umfeld
Regulation körperlicher Bedürfnisse
•Menschen im Entwicklungsalter des ersten Lebenshalbjahres (SEO I) haben eine besondere Sensibilität für das atmosphärische Umfeld. Vor diesem Hintergrund ist die Wahrnehmung