Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. DahlhausЧитать онлайн книгу.
man eine Diagnose stellen, konnte man unter anderem eine ADHS-Symptomatik attestieren.
Die Berücksichtigung des viergliedrigen Organismus ergab ein Überwiegen des Astralleibes – ablesbar an der erheblichen Spannung und Unruhe sowie an den abrupten Stimmungsschwankungen. Zusätzlich wurde diese Kräfteorganisation nicht gestützt, gehalten und ausgeglichen durch die Kräfte des Lebensleibes (quasi »von unten« – ersichtlich aus der mangelnden Befähigung zu Erholung und Regeneration) und des Ichs (»von oben« – ablesbar an der mangelnden Befähigung zu Selbststeuerung, Selbststruktur und Impulskontrolle).
Der therapeutische Zugang zielte – unter anderem – vor allem auf eine Stärkung der Lebenskräfte ab, indem rhythmische Abläufe (Tagesstruktur, Mahlzeiten, Schlafzeiten) intensiv gepflegt und begleitete Zeiten von Regeneration eingeführt wurden, es wurde auf Durchwärmung und eine gute natürliche Ernährung geachtet, aufbauende Substanzen (Aufbaukalk und anderes) verabreicht, Leibwickel (Kamille) und Einreibungen (Primula) angewendet – immer getragen von einer beruhigend-ermutigenden Beziehungsgestaltung.
Nachdem auf diese Weise ein Boden geschaffen worden war, wurde versucht, die Selbstwahrnehmung und Selbstregulation zu stärken: »Was magst du dir vornehmen?« – »Welche Ziele setzt du dir?« – »Was schaffst du?« Damit wurde dem übergeordnet-ordnenden Prinzip des »Ichs« Rechnung getragen.
Zugänge zu den polaren Krankheitstendenzen
Heilpädagogische Zustände sind keine »Defektzustände«, sondern Einseitigkeiten, die nach Ausgleich suchen.
Grundtypen heilpädagogischer Entwicklung
Rudolf Steiner beschreibt in seinem Heilpädagogischen Kurs Krankheitsbilder bzw. Formen oder Grundtypen heilpädagogischer Entwicklung. Dabei werden in diesem anthroposophisch orientierten Ansatz zur Heilpädagogik beispielhaft drei Bereiche herausgehoben und an jeweils polar gegenüberliegenden Paaren von spezifischen Krankheitstendenzen verdeutlicht:23
Verkrampfung und »Ausfließen«
•Beeinträchtigung von Einschlafen und Aufwachen. Dahinter steht die Frage des Inkarniertseins, die Verbindung von Seele und Körper, konkret, im Sinne von Rudolf Steiners Menschenkunde, das beeinträchtigte Eingliedern der oberen in die unteren Wesensglieder.24 Eine Neigung zu Verkrampfung (Stau bzw. zu starkes In-sich-Sein) wird einem »Ausfließen« (d.h. zu großer Offenheit, zu starkem Außer-sich-Sein) gegenübergestellt. Steiner verwendet hierfür die Begriffe »epileptisch« auf der einen und »hysterisch« auf der anderen Seite. Dies bedeutet aber keine Begrenzung auf ein konkretes epileptisches Anfallsgeschehen bzw. auf hysterische Zustände, vielmehr sind übergreifende Seinszustände gemeint (siehe hierzu auch das Kapitel »Psychiatrische Aspekte der Epilepsie«, Seite 345 ff.).
Entwicklungsverzögerung und Zwangszustände
•Ein zweites polares Paar beschreibt den Umgang mit Vergessen und Erinnern. Hier wird Leiblich-Seelisches auf konkrete Stoffwechselprozesse bezogen, insbesondere auf das Gleichgewicht von Schwefel zu Eisen. Ein Ungleichgewicht in diesem Bereich kann Entwicklungsverzögerungen verursachen (beispielsweise eine Phenolketonurie bei einer schwefelbedingten Stoffwechselstörung) oder zu Zwangszuständen führen (bei einem Übergewicht der Eisenkomponente; siehe hierzu auch das Kapitel »Zwangsstörungen«, Seite 210 ff.).
gehemmte und ruhelose Bewegung
•Ein drittes sich polar gegenüberstehendes Paar bezieht sich auf den Bewegungstypus: Schwere, gehemmte, verlangsamte Bewegung wird in einen Zusammenhang mit der Sinnesbefähigung gebracht; dem gegenüber steht ein überbewegliches und ruheloses Bewegungsbild, das Menschen kennzeichnet, die schwer nur bei einem Eindruck verweilen können.
Im Kontext des Heilpädagogischen Kurses benennt Rudolf Steiner diesen Zustand des ruhelosen Bewegungsdrangs als »maniakalisch«, angelehnt an den Begriff der »Manie«.25
leibliche Konstitution und seelische Bedingtheit
Hintergrund dieser polaren Bilder ist die sich gegenseitig bedingende Verbindung von leiblicher Konstitution und seelischer Bedingtheit. Die jeweiligen Zustände werden dabei vom Gesichtspunkt des Ungleichgewichts her beschrieben. Das therapeutische Bemühen hat daher einen Ausgleich zum Ziel und setzt auf unterschiedlichen Ebenen an.
Zugänge zu den funktionellen Organtätigkeiten
seelische Fähigkeiten und Organtätigkeit
Eine anthroposophisch orientierte Psychiatrie stellt die seelischen Fähigkeiten – insbesondere die Bereiche des Denkens, der Emotionen sowie des Antriebs – stark unter den Aspekt der Leibes- bzw. Organtätigkeit. Rudolf Steiner formulierte dies einmal folgendermaßen: »Geisteswissenschaft braucht nicht davor zurückzuschrecken, […] zu zeigen, wie die sogenannte Geistes- oder Seelenkrankheit immer zusammenhängt mit irgendetwas im menschlichen Leibe.«26 Dieses »Irgendetwas« konkretisiert sich insbesondere in der differenzierten Beschreibung der funktionellen Tätigkeiten von Herz, Lunge, Leber und Niere.
seelenwirksamer Leib
Gemäß Rudolf Steiners medizinischer Menschenkunde kann eine seelische Erkrankung nicht alleine als Gehirnkrankheit gesehen werden. Vielfach wird hier der Begriff des »Spiegels« hinzugezogen: Der gesamte Leib wird als »seelenwirksam« gesehen – bewusst wird das Geschehen durch das Gehirnorgan. Eine anthroposophisch orientierte Psychiatrie sucht in Erscheinungsbild wie Therapie diese funktionellen Organprozesse auf, gemäß einer sogenannten »Psychologie der Organe« (siehe auch das Kapitel über Epilepsie, Seite 345 ff.).27
Zusammenfassung
gewissenhaft erstellte Diagnose
Ein Mensch mit Unterstützungsbedarf hat das Recht auf eine zutreffende und umfassend geprüfte Diagnose unter Beachtung der genannten Diagnoseschritte. Er hat das Recht, dass auf diese gewissenhaft erstellte Diagnose eine für ihn hilfreiche Therapie aufgebaut wird. Und er hat das Recht darauf, dass er nicht auf diese Diagnose reduziert wird, sondern dass gerade die hinreichende Einschätzung einer Symptomatik und die entsprechende therapeutische Behandlung eine Wesensbegegnung ermöglichen.
schicksalhafter Aspekt
Fragen wie: »Warum diese Erkrankung?«, »Warum diese Erkrankung jetzt?« und »Warum habe ich diese Erkrankung?« werden wesentlich, sie führen zum Wesen des anderen und können den schicksalhaften Aspekt einer Erkrankung zu erhellen versuchen. Auch wenn sie der Betreffende nicht selber stellen kann, wir als Begleiter können es für ihn tun.
So kann die Diagnosefindung vom ganz Konkreten ausgehen, dieses berücksichtigen und klären – und letztlich immer weiter und immer tiefer hin zur Persönlichkeit des anvertrauten Menschen führen.
Fähigkeiten und Ressourcen aufsuchen
Der tiefste diagnostische Blick auf einen Menschen wird der achtsame Blick sein: ein Blick, der sich nicht auf Defizite stützt, sondern Fähigkeiten und Ressourcen aufsucht, der sich auf das richtet, was im anderen werden will. Ein Blick, der ohne Kommentar, vor allem ohne jegliches Urteil ist. Ein Blick, der unverstellt sehen will, was ist. Ein aufmerksamer und liebevoller Blick birgt Erkenntniskraft in sich. »Liebevoll« meint hier: ein Blick, der einen Menschen nicht auf Gewordenes reduziert, sondern der offen ist für das