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Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung. Walter J. DahlhausЧитать онлайн книгу.

Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung - Walter J. Dahlhaus


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mit einer Intelligenzminderung erleiden verhältnismäßig häufig körperliche Gewalt. Nicht selten ist dies durch die Hilflosigkeit und Überforderung der Erziehungspersonen und die mangelnde Inanspruchnahme von Hilfen bedingt.

      Ein 16-jähriger Junge wird tief verstört in einer heilpädagogischen Einrichtung aufgenommen. Sobald sich ihm jemand nähert, hebt er schützend die Hände. Erlebt er Unruhe oder Streit in seiner Umgebung, zeigt er erhebliche Zeichen von Angst, schreit und versucht wegzulaufen.

      Hintergrund ist bei dem Jugendlichen ein Fragiles-X-Syndrom, verbunden mit einer mittelgradigen Intelligenzminderung – und ein massiv überfordertes Elternhaus, das auf die charakteristischen Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, vor allem seine Unruhe und Impulsivität, mit großer Strenge und körperlicher Gewalt reagierte.

       Wichtigkeit von Bezugspersonen

      Bei Menschen mit Intelligenzminderung müssen wir gerade auch von möglicher erlittener sexueller Gewalt ausgehen. Durch die oft belastete Sozialisation und die besonderen Lebensumstände, die sich immer in einer erhöhten Abhängigkeit von Bezugspersonen äußern, haben Menschen mit Behinderung ein höheres Risiko, sexuell missbraucht oder ausgebeutet zu werden. Die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs betrifft auch hier vorrangig Mädchen und Frauen, darüber hinaus oft auch schwerer behinderte Menschen.

      Die möglichen Formen eines sexuellen Missbrauchs sind sehr vielfältig. Wir kennen hier alle Formen sexueller Gewalt, wie sie weiter oben angeführt sind (siehe Seite 85).

      Bei einer 35-jährigen Frau lässt sich die Ursache der leichten Intelligenzminderung nicht mehr sicher bestimmen – Nikotin in der Schwangerschaft, massive Verwahrlosung im ersten Lebensjahr und frühe ausgeprägte Mangelernährung wirkten zusammen. Durch den Partner der Mutter erlitt sie, wohl im dritten und vierten Lebensjahr, schwere sexuelle Gewalt, bis sie in eine Pflegefamilie aufgenommen wurde. Als ihr der Tod der leiblichen Mutter mitgeteilt wurde, reagierte sie mit den Worten: »Schade, da kann sie sich gar nicht mehr bei mir entschuldigen!«

       besondere Hilfsbedürftigkeit

      Durch die Hilfsbedürftigkeit bei hygienischen Maßnahmen und besonders der Intimpflege, die sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene betrifft und ein besonderes Maß an Ohnmacht und Hilflosigkeit bedingt, eröffnet sich hier ein weites Feld möglichen übergriffigen oder sexuell verletzenden Verhaltens durch pflegende oder betreuende Personen. Die intellektuelle Beeinträchtigung führt dazu, dass die Situationen nicht in ihrer Tragweite erfasst werden können, das Herstellen von Zusammenhängen erschwert sein kann, Behauptungen und Versprechen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und Drohungen nicht realistisch eingeschätzt werden können.

       vorbeugende Maßnahmen und Aufmerksamkeit

      Es gibt bis heute keine gesicherte Statistik, Schätzungen gehen aber davon aus, dass mindestens ein Viertel der Betroffenen schon einmal sexuelle Übergriffe erlebt hat – eine erschreckend große Zahl! Hier sind vorbeugende Maßnahmen und hohe Aufmerksamkeit gefragt. Die vielerorts eingerichteten Präventionsstellen sind zu diesem Zweck entstanden.

      Das Erkennen einer solchen sexuellen Gewalt ist für die Betreuer und Angehörigen oft erschwert, da eine verminderte Artikulationsfähigkeit besteht: Menschen mit einer intellektuellen oder einer Mehrfachbehinderung können sich oft nur unzureichend verbal mitteilen. Nonverbale Kommunikation ist meist vielseitig interpretierbar und missverständlicher als verbale. Gelegentlich werden auch Berichte über sexuelle Belästigung als Fantasien, Übertreibung oder auch Wunschdenken abgetan. Belastend ist hier auch ein geringes Selbstwertgefühl, da diese Menschen in ihrem sozialen Umfeld häufig nicht als gleichwertige Persönlichkeit akzeptiert und respektiert werden.

       übergriffiges Verhalten Betroffener untereinander

      Ein weiterer Bereich ist das mögliche übergriffige Verhalten von betreuten Personen untereinander. Hier sind in vielen Einrichtungen noch entscheidende Schritte zu gehen, um einen umfassenden Schutz der Intimsphäre des Einzelnen hinreichend zu gewährleisten. Der Umgang mit Körperhygiene und Nacktheit sowie die Toilettenbenutzung kann oft noch verbessert werden. Ich halte es für dringend erforderlich, gerade unter dem Blickwinkel einer möglichen Verletzung der Gefühle bzw. der Förderung eines entsprechenden Bewusstseins von Intimsphäre, hier die einzelnen Situationen und Bereiche noch zu optimieren – das bedeutet: würdiger zu gestalten.

      In einer Einrichtung für erwachsene Menschen mit Assistenzbedarf wurde mir geschildert, dass die Bewohnerinnen nach dem Duschen über einen Gang gehen mussten, der auch von Männern bewohnt wurde. Sie waren dabei nur teilweise durch ein Badetuch oder einen Bademantel geschützt, in manchen Fällen sogar nackt und somit den Blicken und Äußerungen der männlichen Mitbewohner ausgesetzt. Ein Bewusstsein konnte erst durch die Frage geweckt werden, ob sich die Mitarbeitenden selber in einer solchen Situation sehen wollten.

       Aufmerksamkeit und Unterstützung

      Der Umgang der Menschen mit Assistenzbedarf untereinander bedarf großer Aufmerksamkeit und Unterstützung. Dies beinhaltet auch den Schutz vor übergriffigem Verhalten anderer.

      Ernst, ein 27-jähriger Bewohner mit Prader-Willi-Syndrom und leichter Intelligenzminderung, zeigte ein ausgeprägt triebhaftes Verhalten mit nahezu aufgehobener Steuerungsfähigkeit. Wiederholt wurde beobachtet, dass er, selbst wenn seine Beaufsichtigung nur für wenige Minuten nicht gewährleistet war, in Zimmer von Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen ging und unmittelbar sexuelle Handlungen ausführte (Entkleiden anderer, vor allem Schwächerer, intime Berührungen, Versuch der Penetration, auch anal). Das Bestreben, den erheblichen Triebdruck und die mangelnde Impulskontrolle medikamentös durch das Neuroleptikum Risperidon bzw. durch Cyproteron (ein Medikament, das auf den männlichen Sexualhormonhaushalt einwirkt) zu beeinflussen, führte nur zu einer minimalen Beruhigung. Letztlich konnte nur eine lückenlose Begleitung den Schutz der Mitbewohner gewährleisten – und ihm auch den Schutz vor sich selbst ermöglichen. Damit war auch verbunden, dass er in Situationen, in denen diese Begleitung nicht ermöglicht werden konnte, für begrenzte Zeit (mit richterlicher Genehmigung) in seinem Zimmer eingeschlossen werden musste.

      Erstaunlicherweise akzeptierte er diese Maßnahme weitgehend. Offensichtlich empfand er es letztlich als Hilfe – auch als Hilfe, vor seinem eigenen Verhalten geschützt zu sein.

       Beziehungsgestaltung von Paaren

      Aber auch die Beziehungsgestaltung von Paaren untereinander bedarf der Unterstützung, um mögliche sexuelle Gefährdungen und Verletzungen zu verhindern.

      Thomas, ein 28-jähriger Bewohner mit Zustand nach früher erheblicher emotionaler Verwahrlosung und einer frühkindlichen Hirnschädigung mit leichter Intelligenzminderung, und Andrea, eine Bewohnerin mit Smith-Magenis-Syndrom und leichter Intelligenzminderung, befreundeten sich. Nach über einem Jahr der Freundschaft äußerten sie das Bedürfnis nach einer intimen Beziehung. Den Betreuern fiel auf, dass Andrea in den darauf folgenden Monaten zunehmend verstört wirkte, wechselnde Stimmungen zeigte, unkonzentrierter war und teilweise auch fremdaggressive Verhaltensweisen zeigte. Obwohl die sexuellen Kontakte von den Mitarbeitenden vorbereitend begleitet worden waren, wobei es zunächst insbesondere um Fragen der Empfängnisverhütung ging, wurde vermutet, dass die sexuelle Beziehung für Andrea eine erhebliche Herausforderung darstellte. Im Rahmen eines Forschungsprojekts einer Fachhochschule für Heilpädagogik betreuten zwei Studenten – eine junge Frau und ein junger Mann – Andrea und Thomas über ein Jahr. Sie besprachen eingehend deren sexuelle Kontakte und erläuterten und zeigten anhand von Bildern und Filmen Möglichkeiten der Gestaltung der intimen Beziehung. Insbesondere achtsame Formen der Berührung und der Stimulation wurden dabei vermittelt. Sie verabredeten Zeichen, die insbesondere Andrea geben konnte, wenn sie spürte, dass ihre Grenzen berührt wurden. Die Situation entspannte sich nachhaltig, beide erlebten ihre Beziehung zunehmend angstfreier und erfüllender. Dies ermöglichte beiden eine beeindruckende Vertiefung ihrer Persönlichkeit.

      


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