Allein am Stony Creek / Schutzlos am Red Mountain. Christopher RossЧитать онлайн книгу.
der Reihe war. Dabei fiel ihr Blick auf einen Mann, der mit seinem Kaffee in einem der Sessel saß und unentwegt in ihre Richtung blickte.
Sie war kein Model und sah in ihrem Anorak und mit ihren hochgesteckten Haaren nicht besonders sexy aus, noch dazu standen neben ihr zwei junge Mädchen, die sich wohl für ein Date zurechtgemacht hatten und mit ihren blonden Locken viel verführerischer aussahen. Aber er schien sich nur für sie zu interessieren und nahm den Blick nicht von ihr. Da er im Schatten einer künstlichen Topfpflanze saß, konnte sie sein Gesicht kaum sehen. Sie registrierte lediglich, dass er seinen Schal mehrmals um den Hals gewickelt hatte.
Als er merkte, dass sie ihn entdeckt hatte, senkte er rasch den Kopf. Jetzt hab ich mir schon einen Stalker angelacht, überlegte sie scherzhaft, ohne daran zu denken, dass einer Studienkollegin auf dem College das wirklich passiert war. Ein Junge aus der Nachbarschaft hatte sie so lange verfolgt, bis man ihn dabei ertappt hatte, wie er in das Haus seiner Angebeteten eingestiegen war, und ihn verhaften konnte. Die Studentin war später in eine andere Stadt gezogen.
Ihr Caffè Latte war fertig, doch als sie an ihren Platz zurückkehren wollte, saß dort ein junger Mann und las angestrengt in einem Buch. Er hatte anscheinend keine Augen im Kopf und übersehen, dass der Tisch schon besetzt war. Vor sich hatte er einen grünen Tee stehen, nicht unbedingt das Getränk, das erwachsene Männer in Alaska bevorzugten, und blickte überrascht auf, als er sie wahrnahm.
Gleichzeitig sah er ihren Anorak über dem Stuhl gegenüber hängen. »Oh«, entschuldigte er sich. »Ich hab nicht gesehen, dass hier jemand sitzt.« Er errötete wie ein Schuljunge. »Wenn Sie wollen, setze ich mich woandershin.«
»Nein, schon okay«, erwiderte sie aus Höflichkeit.
Vielleicht lag es an seinem schüchternen Lächeln, dass sie sich zu ihm setzte, oder an der Art, wie er sich halb von seinem Stuhl erhob und sein Buch zur Seite legte, als sie ihren Becher auf den Tisch stellte. Oder an seiner Stimme, die eine innere Ruhe verriet, die nach der hektischen Brandy besonders auffiel. Er sah blendend aus, zumindest im warmen Licht der Coffee Bar, war etwa zwei bis drei Jahre älter als sie und trug einen gemusterten Pullover. Seinen dunkelblauen Anorak hatte er ebenfalls über die Stuhllehne gehängt.
»Steve Morgan«, stellte er sich vor.
»Julie Wilson.«
Er griff nach seinem Buch, dem Erlebnisbericht eines Forschers, der wochenlang mit einem Wolfsrudel zusammengelebt hatte. Sie kannte es auch. »Wussten Sie, dass Wölfe eine Vorliebe für Blaubeeren haben?«, fragte er. »Die fressen sie besonders gern, lieber als Hasen oder Schafe.«
»Oder Elche«, erwiderte sie. »In manchen Ländern fressen sie sogar Heuschrecken. Wölfe sind nicht gerade wählerisch, was ihre Speisekarte betrifft.«
Er lächelte. »Sie kennen sich aus.«
Sie griff nach ihrem Anorak und zeigte ihm das Logo des National Park Service. »Ich bin Rangerin im Denali National Park. Das heißt, eigentlich bin ich Praktikantin. Wenn alles gut läuft, werde ich im Frühjahr übernommen.«
»Ups! Und ich wollte mit meinem Halbwissen angeben.«
»Und Sie?«, fragte Julie.
»Studium der Biologie und Anthropologie, sechstes Semester. University of Alaska. Keine Ahnung, was ich damit anfange, falls ich die Prüfungen bestehe. Am liebsten würde ich später an Tierschutzprojekten mitarbeiten.«
»Das hab ich gerade hinter mir.« Sie berichtete von dem Wolf Monitoring Program, mit dem sie vor einigen Wochen im Nationalpark begonnen hatten. Einzelne Wölfe wurden betäubt und mit einem Funkhalsband ausgestattet, das jederzeit auf Monitoren anzeigte, wo sie sich befanden und wie es ihnen ging. »Davon müssten Sie eigentlich gehört haben. Dr. John Blake, ein Forscher der University of Alaska in Fairbanks, leitet das Projekt. Es soll helfen, die acht Rudel am Denali zu schützen. Wir hatten einigen Ärger mit Wolfskillern, die Jagd auf die Tiere machten. Wenn Sie Biologie studieren …«
»Ich habe von dem Projekt gehört und Blake bei einem Vortrag kennengelernt, aber ich bin nur zwei Wochen hier, um Nachforschungen für einen Vortrag anzustellen. Ich studiere an der University of Alaska in Anchorage.«
»Hier wären Sie den Wölfen näher.«
»Von Anchorage sind es auch nur vier Stunden bis zum Denali National Park. Im Sommer wollte ich endlich mal hinfahren und dort wandern. Die Wölfe werden sich wohl kaum blicken lassen, aber ich hab mir sagen lassen, dass man manchmal Grizzlys und Elche sogar von der Hauptstraße aus beobachten kann.«
»Mit etwas Glück schon, aber besser ist es, Sie tragen sich für eine Wanderung mit einem Ranger ein. Die wissen ungefähr, wo sich die Tiere aufhalten. Sie können sogar herausfinden, wo sich die Wolfsrudel gerade befinden.«
»Klingt gut. Sind Sie denn im Sommer noch da?«
»Sie können es ja mal versuchen.« Sie wunderte sich selbst, wie bereitwillig sie ihm ihre Visitenkarte gab, und schob rasch hinterher: »Auf jeden Fall werden Ranger dort sein, die ausgedehnte Wanderungen im Park unternehmen. Für die langen Wildnis-Wanderungen müssen Sie sich aber ziemlich früh anmelden.«
Steve trank einen Schluck. Dass sein grüner Tee bereits lauwarm war, schien ihm nichts auszumachen. So wenig, wie es Julie kümmerte, dass ihr Caffè Latte abkühlte. »Kommt Ihnen vielleicht komisch vor, dass ich noch nie im Denali National Park war, aber ich bin erst seit einem Jahr hier. Vorher habe ich in L. A. studiert. Nicht gerade der ideale Ort für jemanden, der sich für Schnee und Eis begeistern kann und was für Wintersport übrighat. Vom ständigen Smog ganz zu schweigen. Der ist schlimmer als Zigaretten rauchen. Ich war froh, als endlich die Zusage aus Anchorage kam. Hier fühle ich mich wohl, obwohl mir Fairbanks noch lieber gewesen wäre. Anchorage passt eigentlich gar nicht nach Alaska, viel zu groß. Aufgewachsen bin ich in Kalifornien. San Diego. Die Stadt mit dem meisten Sonnenschein, doch damit konnte ich nie was anfangen. Wenn die anderen segeln gingen, war ich in der Sierra Nevada und turnte auf meinem Snowboard und meinen Skiern herum.«
»San Diego … da lebt meine Mutter. Sie ist Ärztin an einem großen Krankenhaus. Meine Eltern sind geschieden. Zwei Ärzte … das konnte ja nicht gut gehen. Die meiste Zeit sahen sie sich gar nicht, nicht mal im Krankenhaus.«
»Das tut mir leid.«
»Braucht es nicht«, erwiderte sie. Normalerweise sprach sie nicht über die Scheidung ihrer Eltern, schon gar nicht zu einem jungen Mann, den sie erst vor ein paar Minuten kennengelernt hatte, doch er strahlte eine so ehrliche Anteilnahme aus, dass sie gar nicht anders konnte. Mit Josh hatte sie nicht gerne darüber gesprochen. »Das ist schon eine halbe Ewigkeit her, und ich komme mit beiden gut aus, obwohl wir viel zu wenig miteinander reden.«
»Meine Eltern sind auch geschieden«, gestand Steve. »Sieht so aus, als käme die Langzeitehe langsam aus der Mode. Sie wohnen beide noch in San Diego und betreiben sogar weiter ihre Firma zusammen, einen Bootsverleih an der Mission Bay. Sie gehen sogar zusammen aus. Seltsam, nicht wahr?«
Sie lachte. »In Kalifornien ist vieles seltsam, oder etwa nicht?«
»Da haben Sie recht. Und Sie sind hier in Alaska aufgewachsen?«
»Montana«, klärte sie ihn auf, »aber ich bin schon seit zehn Jahren hier. Mir geht es wie Ihnen, in Schnee und Eis fühle ich mich am wohlsten. Für mich gibt es nichts Schöneres, als mit einem Hundeschlitten durch die verschneiten Wälder oder über die Tundra zu brausen.« Sie bemerkte seinen staunenden Blick. »Ich bin im Nationalpark für die Huskys verantwortlich.«
»Sie sind eine … wie sagt man? Musherin?«
»Ich war schon in Montana mit dem Hundeschlitten unterwegs«, fuhr sie fort. »Ich konnte immer gut mit Huskys. Wenn alles gut geht, und ich Zeit finde, will ich nächsten oder übernächsten Winter am Iditarod teilnehmen. So heißt das große Rennen, das jedes Jahr stattfindet. Über tausend Meilen von Anchorage nach Nome. Das haben auch schon Frauen gewonnen, und wenn ich fleißig trainiere … es wäre toll, wenn ich unter die Top Ten käme.«
Julie blickte aus dem Fenster und sah sich den Blicken eines Mannes gegenüber, der