Paris abseits der Pfade (Jumboband). Georg RenöcklЧитать онлайн книгу.
die Stecknadeln im Heuhaufen, und auch wenn sich die Händler heute besser auskennen, werden nach wie vor echte Überraschungsfunde gemacht. Freilich braucht man eine gewisse Expertise, und das nicht nur, um eventuell doch noch eine Originalskizze von Leonardo da Vinci unter einem Stapel wertloser Drucke herauszufischen. Die Asterix-Gläser, die ich gerade noch zu kaufen überlegt habe, stammen aus dem Jahr 1968, Sammler erkennen das auf den ersten Blick. Für den morgendlichen Orangensaft der Kinder würde er die nicht nehmen, das sind echte Sammlerstücke, erklärt mir Oliver, nun wieder ganz in seinem Element, und die Frage nach der Geschirrspülerfestigkeit des hübschen Service, das ich schon auf unserem Frühstückstisch stehen gesehen habe, wage ich danach nicht mehr zu stellen. Als mir der deutsche Pucier stattdessen anhand einer Serie historischer Persil-Waschpulverschachteln, die er vor mir aufbaut, einen Vortrag über die vertrackte Geschichte dieser über hundertjährigen Marke hält, gelingt es mir nicht mehr, aufmerksam zuzuhören, so gut Oliver auch zu erzählen versteht – ich bin zu durchgefroren, um länger stehen bleiben zu können, und es zieht mich einfach in die Gassen des Flohmarkts, um auf eigene Faust meine Entdeckungen zu machen.
Oliver
Am liebsten mag ich die vielen originellen, aber auch funktionalen Gegenstände, mit denen man seine Wohnung ausstatten könnte, von formschönen Porzellanlichtschaltern bis zu den typischen französischen Messingtürknöpfen, die so gut in der Hand liegen. Von allem gibt es eine unglaubliche Auswahl. Komplette Baccarat-Kristallgläsersets von 48 Stück kann man für den etwas eleganteren Sektempfang kaufen, Möbel von der Hobelbank bis zur Wendeltreppe, verschnörkelte oder ganz schlichte Silberbestecke, schwere alte Korkenzieher, Schlüsselanhänger, Champagnerkorkensammlungen, alte Werbeplakate, Ledermöbel, Kaffeemühlen, Schaufensterpuppen, stapelweise Postkarten … ich beschließe, später wieder im Vernaison-Markt vobeizuschauen, noch bin ich nicht in Kauflaune und möchte zuvor ein paar andere Märkte sehen. Oliver hat mir beim Weggehen noch den Tipp gegeben, bei seiner Nachbarin Anne-France vorbeizuschauen, die als lebendes Flohmarkt-Lexikon gilt und illustre Figuren wie John Galliano zu ihren Stammkunden zählt.
In der Rue des Rosiers, schon wieder draußen aus „Vernaison“, gehe ich am Le Voltaire vorbei, einem Flohmarkt-Bistro, in dem ich schon oft gegessen oder einen Kaffee getrunken habe. Es ist zwar nicht billig, aber immer voll, das Essen von Brathuhn bis Mousse au chocolat einfach, aber gut, die Kellnerinnen sind energisch, aber nicht uncharmant. Schnell wird man irgendwo hingesetzt und landet, ist man allein unterwegs, mitten in einem meist fröhlichen Durcheinander aus Händlern, Touristen und Stammgästen, in dem man leicht mit seinen Tischnachbarn ins Gespräch kommt. Ich erinnere mich noch gut an eine chinesische Touristin, die alte Babyfotos sammelte und recht unzufrieden an ihrem zu durchgebratenen Steak kaute, das sie irrtümlich so bestellt hatte, weil sie „bien cuit“ für die Bezeichnung einer besonders hohen Fleischqualität hielt. Ich fand ihre Sammelleidenschaft anfangs seltsam, aber sie zeigte mir dann ihre Ausbeute: berührende Bilder, auf der Rückseite mit altertümlichen Schriftzügen in bräunlicher Tinte beschriftet, auf der Vorderseite süße Kinder, die inzwischen im Greisenalter oder längst verstorben sein mussten und eigentümlich fremd wirkten in den Kostümen und künstlichen Landschaften, die damals in Mode waren. Bilder aus einer zeitlich gar nicht so weit zurückliegenden und doch so unendlich weit entfernten Welt aus der Epoche vor den Weltkriegen.
Heute spaziere ich am Voltaire vorbei und bummle zwischen die Stände des ruhigeren, auf eher gehobene Antiquitäten spezialisierten Marché Biron. Hier gibt es viel Verschnörkeltes, aber auch zeitlos schöne Dinge, und nicht alles ist teuer: schlichte, aber elegant geschwungene Eichenstühle mit Strohsitzfläche aus der Zeit des Directoire zum Beispiel, um hundert Euro das Stück – schade, dass die nicht ins Handgepäck passen …
Auf der anderen Straßenseite, dem Markteingang gegenüber, bleibt mein Blick an den seltsamen Club-Ledersesseln eines Ladens namens Fleur de peau hängen. Sie sind viel kleiner und schmäler als die gewohnten, in Paris sehr beliebten Club-Möbel, dennoch sitzt man sehr bequem darin – sie sind eindeutig nicht für Kinder gemacht. „Sind nur Nachbauten, sagt der brummig-freundliche Händler, der gerade aus dem Laden tritt, während ich probesitze. Nachbauten wovon? Von U-Boot-Möbeln aus den 1950er-Jahren, erfahre ich. Offiziere hatten selbst in den engen Unterseebooten das Recht auf einen kleinen Salon mit Ledermöbeln, die eben dem spärlichen Platzangebot angepasst wurden. Auch eine Couch gibt es dazu, genauso bequem, wie ich mich überzeugen kann, aber eben viel kleiner als gewohnt. „In Paris verkaufen sich diese Möbel wahnsinnig gut“, erklärt mir der Händler. Die Pariser Wohnungen sind nun einmal winzig, die U-Boot-Modelle wie gemacht dafür. Was für eine Marktlücke!
Ich gehe an einem weiteren Flohmarkt-Bistro vorbei, der Chope des Puces. Es handelt sich um kein unbekanntes Lokal: Django Reinhardt trat hier auf, der Manouche-Gitarrist lebte im Haus dahinter. Noch heute finden am Wochenende von halb eins bis spätabends Konzerte mit Manouche-Musikern statt, doch am Vormittag ist es ruhig. Ich werfe einen Blick in das Lokal und wechsle ein paar Worte mit der Wirtin, die sich als Madame La Coupe (was man mit „Champagnerschale“ übersetzen kann) vorstellt. Eigentümer des Lokals ist der Jahrmarkt-Unternehmer Marcel Campion, eine skandalumwitterte, schillernde Figur des französischen Wirtschafts- und Gesellschaftslebens. Campion ist aber auch selbst Manouche-Musiker und möchte den Geist dieser vor allem in den 1930er-Jahren populären Musik, in der sich Jazz, Chanson, Klezmer- und Roma-Musik verbinden, in seinem Lokal am Leben erhalten.
Kurz nach dem Django-Reinhardt-Bistro, in dem gerade die ersten Apéros bestellt werden, biege ich nach links in die Rue Paul Bert, die zum gleichnamigen Markt führt. Die Straße säumen einige alte Häuser mit teils verwilderten Vorgärten, vor denen Antiquitäten stehen. Colonial concept heißt eines dieser Häuser. Ausgestopfte Pfaue, die ich im Vorbeigehen aus dem Augenwinkel wahrnehme, machen mich neugierig, ich betrete das Haus. Einmal mehr finde ich mich in einem Dekor wieder, das mir das Gefühl gibt, in einem Film oder einem Märchen gelandet zu sein, allerdings in einem gruseligen: Die Pfaue waren nur ein Vorgeschmack, in einem zweiten Haus hinter dem straßenseitigen Gebäude befinden sich noch viel mehr ausgestopfte Tiere. Eine in drei Stücke geteilte Giraffe zum Beispiel, deren nach unten geneigter Hals weit in den Raum hineinragt. Sie streckt die Zunge heraus, als würde sie dem Verkäufer, der in einem Lehnstuhl gleich darunter sitzt, über den gegelten Schopf schlecken wollen. Ein grotesker, auf seine Weise großartiger Anblick. Einige Zebraköpfe mit geblecktem Gebiss grinsen von der Wand, ein ausgestopfter kleiner Schwarzbär scheint mit einem Strauß von drei Gasballons, die er fest in der Pfote hält, davonzufliegen. Weiße Pfauen starren mich an, ein hübsches weißes Pferd sieht so lebendig aus, dass ich es unwillkürlich streichle.
Colonial Concept
François Daneck heißt der Eigentümer des Geschäfts, der sich mehr als Künstler denn als Präparator oder Händler versteht. Ein wenig dürfte er sich an Damien Hirst orientieren, mich überzeugen seine gruselig-kitschigen Kunstwerke aus verzierten Tier-Totenköpfen aber nicht. Dafür hat es etwas von einer morbiden Fantasiereise, zwischen den vielen ausgestopften Tieren und den mit Tierfellen und -häuten überzogenen Möbeln herumzuspazieren, mit denen das Häuschen auf drei Etagen bis unters Dach vollgeräumt ist. In der Nacht wäre ich lieber nicht hier drin, wobei mir da einfällt: Waren es nicht ganz ähnliche weiße Pfauen, die bei dem Fest F. Scott Fitzgeralds in Woody Allens „Midnight in Paris“ für das unwirklich-dekadente Dekor sorgten? Ich möchte Monsieur Daneck danach fragen, doch der ist gerade mit zwei eleganten Pariserinnen in engen Lederhosen ins Gespräch vertieft, die ernsthaft überlegen, sich einen Zebrakopf mitzunehmen, und ich will nicht indiskret danebenstehen und bei den Preisverhandlungen zuhören. Letztendlich ist es auch egal, ob Woody Allen die Dekoration für den Film hier oder in einem ähnlichen Laden besorgt hat. Beim Verkäufer unter der Giraffenzunge erkundige ich mich im Hinausgehen nach den Preisen: 26 000 Euro kostet die Giraffe, die es nur im Ganzen zu kaufen gibt, 9500 das weiße Pferd, 14 500 der Bär mit den Ballons.
Während ich versuche, gedanklich wieder in meine Realität zurückzufinden, stehe ich schon im Nebenhaus, Les Merveilles de Babellou.