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Das nächste Mal bleib ich daheim. Claudia EndrichЧитать онлайн книгу.

Das nächste Mal bleib ich daheim - Claudia Endrich


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eines Systems, sondern eine freischwebende Einheit mit losen Enden. Für manche mag das wie ein Traum klingen, ich hatte bei meiner Abreise aus Ottawa endgültig genug davon.

      Und nun, nach zehn Wochen purer Freizeit in Lima, sehne ich mich nach Alltag. Ich habe mich tatsächlich in den vergangenen Wochen wieder etwas verloren gefühlt und nicht recht gewusst, welche Aufgabe ich mir hier suchen soll. Ein freiwilliges soziales Engagement? Ein ganz normaler Job, in einer Bar oder in einem Hostel? Einfach privat Sprachen unterrichten? Oder doch beginnen, ein Buch zu schreiben? Ich bin absolut unschlüssig. Ich weiß, dieses Gefühl könnte mich in dieser Lebensphase, nach dem Abschluss meines Studiums, in Österreich genauso ereilen wie hier in Peru. Doch das Wissen, dass ich von hier in drei Monaten schon wieder wegziehen werde, macht meine Orientierungslosigkeit nur noch größer. Ich fühle mich immer noch wie diese freischwebende Einheit mit unzähligen losen Enden. Die losen Enden reichen inzwischen auf vier verschiedene Kontinente, überall habe ich angefangene Freundschaften, Netzwerke, nützliches Wissen, Routinen und Möglichkeiten, mich in die Gesellschaft einzubringen, zurückgelassen. Hier in Lima ist meine einzige feste Verbindung immer noch Tom. Die Vorstellung, mich in nächster Zeit zu Hause einzuigeln, macht mich genauso wahnsinnig wie die Idee, wieder mit dem Aufbau von Kontakten von vorne zu beginnen, nur um dann alles in drei Monaten wieder in die Tonne schmeißen zu müssen. Wie ist das bloß passiert, dass mein größter Traum, die Welt zu bereisen und mir auf jedem Kontinent ein kleines Zuhause zu schaffen, zu einer schrecklichen Drohung mutiert ist? Wie kann ich es mir überhaupt erlauben, so über eine Chance zu denken, von der viele ein Leben lang träumen, ohne die Möglichkeiten zu haben, sie in die Tat umzusetzen? Bin ich inzwischen über-reist?

      6 DIE ZEIT Nr. 10/2012. www.zeit.de/2012/10/C-Erasmus (06.01.2019)

      FREI & WILLIG UM DIE WELT

      Aus Mangel an anderen Beschäftigungen verlege ich mich zuerst einmal auf zwei Hobbys, für die man heutzutage wohl überall Gleichgesinnte findet: Party und Yoga. Der Yoga-Trend hat Lima genauso erfasst wie jeden anderen Ort dieser Welt, und so verbiege ich mich wöchentlich mit einer Gruppe von Yogis unter Palmen in einem Park und seufze laut »Ommmmmmmmm«, während ich auf den Pazifik blicke. So oft wie möglich gehe ich tanzen, in die Salsa- und Bachata-Bars der Stadt genauso wie in hippe Clubs, in denen angesagte peruanische DJs auflegen. Durch die Leute, die ich auf diese Weise kennenlerne, und nicht zuletzt dank des Alkohols, der auf den Partys häufig fließt, verbessert sich mein Spanisch rapidíssimo. Dass ein kleiner Schwips das beste Hilfsmittel beim Erlernen einer neuen Sprache ist, habe ich schon zehn Jahre zuvor in Frankreich gelernt.

      Die erste Reise, die ich ohne meine Eltern unternahm – abgesehen von den Ferienwochen bei Oma –, war eine EF-Sprachreise7 an die Côte d’Azur. Ich war fünfzehn und eine Schulfreundin konnte die bereits gebuchte dreiwöchige Reise mit Französisch-Sprachkurs nicht antreten, also fragte sie mich, ob ich nicht an ihrer Stelle fahren wolle. Ich wollte, auch wenn ich vorher gar nie auf diese Idee gekommen wäre und ordentlich nervös wurde bei dem Gedanken, drei Wochen unter Fremden in einem fremden Land zu sein, dessen Sprache ich zwar seit zwei Jahren in der Schule lernte, die ich darüber hinaus aber noch nie wirklich verwendet hatte. Noch heute, über zehn Jahre später, finde ich es nach wie vor schwierig zu sagen, ob mir diese Reise gefallen hat. Es war eine wahre Achterbahn der Gefühle. Der Sprachkurs brachte mir wenig bis gar nichts. Die gesamte Gruppe bestand aus österreichischen Kids, weshalb natürlich möglichst oft Deutsch gesprochen wurde. Die anfängliche Einstufung aller Teilnehmenden in verschiedene Niveaus gab den einen das Gefühl, mies zu sein und den anderen die Gewissheit, sich nicht wirklich anstrengen zu müssen. Die Vormittage dieser drei Juliwochen verbrachten wir also schwitzend und uns langweilend in einem Klassenraum, nachmittags zockelten wir meistens die fünfzehn Minuten zu Fuß durch den höchst touristischen, überteuerten südfranzösischen Badeort in Richtung Strand und erwarteten dort den Feierabend unserer Gastmutter, die uns dann mit dem Auto abholte. Wir waren drei Mädels aus Österreich und der Schweiz, die bei einer großen, dicken, kettenrauchenden Französin und ihrer ebenso voluminösen und Gauloises schlotenden neunzehnjährigen Tochter untergebracht waren. Der Sprachreisen-Anbieter bezahlte die Gastgeber und kontrollierte die Gegebenheiten mäßig, weshalb die meisten von uns die Erfahrung machten, dass die Zimmer klein und dreckig, das Essen wenig und schlecht und der Wille zum menschlichen Austausch gering bis gar nicht vorhanden waren. Wenigstens den Willen zum Austausch zeigte unsere rustikale Maman, auch wenn wir drei sehr wenig von dem verstanden, was sie uns, unterbrochen von lautem und rasselndem Lachen, mit nikotinheiserer Stimme erzählte. Im Haus lief rund um die Uhr der Fernseher, und die alte Frau schlief jeden Abend auf der Couch vor dem laut dröhnenden Gerät ein. Meine größten sprachlichen Erfolgserlebnisse hatte ich, wenn sie mich morgens vor dem Frühstück zum Bäcker schickte, um Baguette zu holen. Was die ersten Tage noch immens schwierig war, weil ich kaum verständlich machen konnte, wie viele Baguettes ich wollte, geschweige denn verstand, wie viel sie kosteten, wurde mit der Zeit zum Kinderspiel. Ansonsten war die Gastfamilie außerhalb des Sprachkurses dennoch unsere einzige Gelegenheit, Französisch zu üben. Unsere Maman kümmerte es nicht weiter, dass drei fünfzehnjährige Mademoiselles bei ihr wohnten, und nahm uns kurzerhand regelmäßig mit zu Familientreffen bei ihrer Mutter. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Schwester waren ebenso zentnerschwere Raucherinnen. Bei der Oma kamen noch ein Gehstock und ein fürchterlicher Raucherhusten dazu, und so konnte man die Zukunft der Tochter und der Enkelin bereits erahnen. Das Gespräch am Tisch verlief meist in einem Tempo, das uns nicht die geringste Chance gab, mitzureden, es sei denn, wir wurden direkt angesprochen, was mit der Zeit immer seltener vorkam. Wir langweilten uns mehr und mehr und sprachen natürlich aus Trotz wieder Deutsch miteinander. Eines Tages endete die Langeweile für uns schlagartig. Zwei schlaksige Jungs mit tiefen, dunklen Augen und wuscheligen Haaren, die so gar keine Gemeinsamkeiten mit den anderen anwesenden Familienmitgliedern zu haben schienen, tauchten plötzlich bei einem der Treffen auf. Wir bemühten uns ganz plötzlich, jedes Wort am Tisch zu verstehen und reimten uns bald zusammen, dass dies die beiden Neffen unserer Gastmutter und etwa zwei Jahre älter waren als wir. Sie nahmen uns mit zu einer »Soirée« mit ihren Freunden, wo reichlich französischer Wein vorhanden war, und ich merkte, wie ich mit jedem Glas gesprächiger und mein Französisch flüssiger wurde. Die ganze Sprachreise war von heute auf morgen eine großartige Entscheidung geworden, wir schrieben flirtende SMS mit unseren neuen Freunden, vermutlich voller peinlicher Rechtschreibfehler, und träumten schon davon, sie zu heiraten und zweisprachige Kinder großzuziehen. Egal wie kurz diese Schwärmereien andauerten, sie gaben uns die nötige Motivation, um uns jedes neue Wort in der Fremdsprache sofort zu merken. Meine zu Beginn noch etwas beschönigenden telefonischen Berichte an meine Eltern wurden bald zu ehrlichen Begeisterungsstürmen. Nach drei Wochen war ich dennoch froh, den Heimweg anzutreten und in meine heile Welt mit sauberem Bad, eigenem, riesigen Zimmer und Deutsch als Verständigungssprache zurückkehren zu können. Ich hatte nie wieder das Bedürfnis, mich für eine Sprachreise anzumelden, aber meine Reiselust war dennoch geweckt. Die Erfahrungen dieser drei Wochen, auch die vielen negativen Momente, wurden im Nachhinein in meinen Erzählungen, und so auch in meiner Erinnerung, viel besser: Es war alles ein großes Abenteuer, ich hatte mit französischen Jungs geflirtet, eine verrückte französische Familie kennengelernt, wilde Partys gefeiert, tagelang am Meer relaxt und mich problemlos mit allen verständigt. Ich hatte Blut geleckt und einen großen Pluspunkt des Reisens für mich entdeckt: Unser Gedächtnis merkt sich vor allem die schönen Dinge, und wenn du beim Erzählen flunkerst, merkt es keiner – bald nicht einmal mehr du selbst.

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