Metamorphosen. OvidЧитать онлайн книгу.
und man sieht die Hügel auftauchen. [345] Es hebt sich der Erdboden: Das Land wächst, indem das Wasser abnimmt. Und nach langer Zeit zeigen die Wälder ihre bloßgelegten Wipfel und tragen noch Reste von Schlamm auf dem Laub.
Neu geschenkt war die Erde. Kaum hat Deucalion gesehen, daß sie leer ist und daß in den trostlosen Landen tiefe Stille herrscht, [350] treten ihm Tränen in die Augen, und er spricht folgendermaßen zu Pyrrha: »Schwester, Gattin, einzig überlebende Frau, dich verband mit mir zuerst unsere gemeinsame Herkunft – denn unsere Väter sind Brüder –, dann das Ehebett und jetzt verbindet uns auch noch die Gefahr. Von allen Ländern, welche die aufgehende und die untergehende Sonne sieht, [355] sind wir beide die gesamte Bevölkerung; alles übrige hat das Meer in Besitz genommen. Auch jetzt sind wir unseres Lebens noch nicht ganz sicher. Die Wolken machen mir immer noch angst. Wie wäre dir jetzt zumute, wenn du ohne mich dem Tode entrissen worden wärest, du Ärmste? Wie könntest du, ganz allein, [360] die Furcht ertragen? Wer würde dich in deinem Schmerz trösten? Denn hätte das Meer auch dich verschlungen, würde ich dir folgen, Gattin, glaub mir! Dann hätte das Meer auch mich verschlungen. O könnte ich doch durch meines Vaters Künste die Völker neu erschaffen und dem geformten Lehm Leben einhauchen! [365] Nun ist das Geschlecht der Sterblichen nur noch in uns beiden vorhanden – so hat es den Göttern gefallen –, und wir bleiben als einzige Vertreter der Menschheit übrig.«
Er hatte geendet, und sie weinten. Da beschlossen sie, zur himmlischen Gottheit zu beten und bei dem heiligen Orakel Hilfe zu suchen. Unverzüglich gehen sie zusammen zu den Wellen des Cephisus, [370] die zwar noch nicht klar waren, sich aber wieder das gewohnte Flußbett bahnten. Dort schöpfen sie Wasser, besprengen Gewänder und Haupt und lenken ihre Schritte zum Tempel der heiligen Göttin; dessen Giebel war grau von häßlichem Moos, und der Altar stand ohne Feuer. [375] An den Tempelstufen angelangt, werfen sich beide vornüber zu Boden. In heiliger Scheu küßten sie den eiskalten Stein und sprachen: »Wenn Gottheiten sich durch berechtigte Bitten erweichen lassen, wenn sich der Zorn der Götter besänftigen läßt, dann sag uns, Themis, auf welche Weise der Verlust wieder ausgeglichen werden kann, den unser Geschlecht erlitten hat, [380] und komm, du Gnadenreiche, der untergegangenen Welt zu Hilfe!« Die Göttin ließ sich rühren und gab ein Orakel: »Geht hinweg vom Tempel, verhüllt euer Haupt, entgürtet eure Gewänder und werft hinter euren Rücken die Gebeine der großen Mutter!«
Lange standen sie starr. Als erste bricht Pyrrha das Schweigen, [385] weigert sich, dem Befehl der Göttin zu gehorchen, und bittet mit angstvoller Stimme um Vergebung; fürchtet sie doch durch das Werfen der Gebeine den Schatten der Mutter zu kränken. Inzwischen wiederholen sie still für sich die dunklen, geheimnisvollen Worte des Orakels und wenden sie im Gespräch hin und her. [390] Da beruhigt der Sohn des Prometheus die Tochter des Epimetheus mit sanften Worten: »Entweder täuscht mich mein Scharfsinn, oder der Orakelspruch ist fromm und rät zu keinem Frevel: Die große Mutter ist die Erde. Ich vermute, daß die Steine im Leib der Erde als Gebeine bezeichnet werden; diese sollen wir hinter unseren Rücken werfen.«
[395] Obwohl die Titanentochter von der Deutung, die ihr Mann dem Spruche gab, beeindruckt war, ist dennoch die Hoffnung ungewiß; so sehr mißtrauen die beiden dem himmlischen Gebot. Aber was kann ein Versuch schaden? Sie entfernen sich, verhüllen ihr Haupt, entgürten ihre Kleider und werfen, wie befohlen, die Steine hinter ihre Fußspuren. [400] Wer möchte dies glauben, wenn nicht das Alter der Sage einen Zeugen ersetzen würde? Die Steine begannen ihre Härte und ihre Starre abzulegen, allmählich weich zu werden und, einmal weich geworden, Gestalt anzunehmen. Sobald sie dann gewachsen sind und ihnen eine sanftere Natur zuteil geworden ist, [405] läßt sich die Andeutung einer Menschengestalt erkennen – freilich noch nicht offenkundig, sondern wie ein eben in Arbeit genommener Marmorblock, nicht ganz ausgeführt, unfertigen Bildwerken sehr ähnlich. Was an jedem Stein feucht und erdig war, kam den Muskeln zugute; was fest ist und sich nicht biegen läßt, verwandelt sich in Knochen; [410] das Geäder aber blieb Geäder. Und in kurzer Zeit bekamen durch die Macht der Götter die von Männerhand geworfenen Steine das Aussehen von Männern; und aus den Steinen, welche die Frau warf, erstand das weibliche Geschlecht aufs neue. Daher sind wir ein harter, ausdauernder Menschenschlag [415] und legen Zeugnis davon ab, woraus wir entstanden sind.
Die Urzeugung
Die übrigen Lebewesen in ihrer Vielgestaltigkeit brachte die Erde von selbst hervor, nachdem alte Feuchtigkeit vom Feuer der Sonne durchwärmt, Schlamm und nasse Sümpfe von der Hitze schwanger geworden und die fruchtbaren Samen der Wesen, [420] im lebenskräftigen Boden genährt, wie im Mutterleib gewachsen waren und mit der Zeit ein bestimmtes Aussehen bekommen hatten. So ist es, wenn der siebenarmige Nil die überschwemmten Äcker verlassen und seine Strömung ins alte Flußbett zurückgelenkt hat und der frische Schlamm vom ätherischen Gestirn erhitzt ist: [425] Dann finden die Bauern beim Umhacken der Schollen sehr viele Lebewesen, darunter manche, noch kaum angedeutet, im Augenblick nach der Entstehung, manche unvollendet und ohne die artgemäßen Glieder; und in ein und demselben Körper lebt oft die eine Hälfte, während die andere noch ungeformte Erde ist. [430] Denn sobald sich Feuchtigkeit und Wärme im rechten Verhältnis gemischt haben, vollzieht sich Empfängnis, und ausgehend von diesen beiden entsteht alles. Und obwohl Feuer dem Wasser feind ist, bringt feuchte Hitze alle Dinge hervor, und zwieträchtige Eintracht ist für die Zeugung angemessen.
Apollo tötet Python
Sobald also die Erde unmittelbar nach der Sintflut schlammig [435] und wieder vom ätherischen Sonnenschein, der Glut aus der Höhe, erhitzt war, brachte sie unzählige Arten hervor und bildete dabei teils frühere Gestalten nach, teils schuf sie neue Ungeheuer. Zwar hätte sie es lieber nicht getan, aber sie gebar auch dich damals, riesiger Python, und du – eine Schlange, wie man sie noch nicht gekannt hatte – [440] warst der Schrecken der neuentstandenen Völker. So viel Raum nahmst du am Berg ein! Der bogentragende Gott, der solche Waffen zuvor nur an Damhirschen und flüchtigen Rehen erprobt hatte, tötete diesen Drachen, der von tausend Pfeilen starrte – der Köcher war beinahe leer – und aus schwarzen Wunden sein Gift verströmte. [445] Und damit die Zeit den Ruhm nicht auslösche, setzte er die heiligen Spiele mit ihren vielbesuchten Wettkämpfen ein, die nach der besiegten Schlange die Pythischen heißen. Hier erhielt jeder junge Mann, der mit der Hand oder im Wettlauf oder im Wagenrennen gesiegt hatte, Eichenlaub als Ehrung. [450] Noch gab es keinen Lorbeer, und Phoebus schmückte seine schönen langhaarigen Schläfen mit Kränzen von jedem beliebigen Baum.
Apollo und Daphne
Die erste Liebe des Phoebus war Daphne, die Tochter des Penëus; diese Leidenschaft gab ihm nicht der blinde Zufall ein, sondern der wilde Zorn des Liebesgottes. Der Gott von Delos, stolz auf seinen Sieg über die Schlange, [455] hatte jüngst gesehen, wie Amor die Sehne anzog und die Hörner des Bogens spannte. Da hatte er gesagt: »Was willst du, loser Knabe, mit männlichen Waffen? Diese Zier steht meinen Schultern an; kann ich doch dem wilden Tier und auch dem Feind unfehlbar Wunden schlagen. Eben erst habe ich den aufgeblasenen Python, der mit seinem giftigen Bauche so viele Morgen weit das Land bedeckte, [460] mit zahllosen Pfeilen niedergestreckt. Gib du dich damit zufrieden, mit deiner Fackel irgendwelche Liebeshändel anzustiften, und maße dir nicht meinen Ruhm an!« Ihm antwortete der Sohn der Venus: »Mag dein Bogen alles treffen, o Phoebus – meiner trifft dich! [465] Dein Ruhm ist um so viel geringer als der meine, wie alle Lebewesen einem Gotte nachstehen.« Sprach’s, schlug mit den Flügeln, flatterte durch die Luft, und flink stellte er sich auf den schattigen Gipfel des Parnaß. Aus dem Köcher, der die Pfeile barg, nahm er zwei Geschosse von entgegengesetzter Wirkung: Das eine vertreibt, das andere erregt Liebe. [470] Der Pfeil, der Liebe erregt, ist vergoldet und hat eine blinkende, scharfe Spitze; der sie vertreibt, ist stumpf und trägt Blei unter dem Schaft. Mit dem einen traf der Gott die Nymphe, die Penëustochter, mit dem andern schoß er Apollo durch die Knochen bis ins Mark. Sofort ist der eine verliebt; die andere flieht schon vor dem Wort »Geliebte«. [475] Sie hat nur Freude an Schlupfwinkeln im Wald und an Fellen gefangener Tiere; so eifert sie der unverheirateten Phoebe nach. Eine Binde umschloß das ungeordnet herabwallende Haar. Viele warben um sie. Sie aber verschmäht alle Freier, hat keinen Mann und will von keinem wissen, streift durch unwegsames Gehölz [480] und fragt nicht nach Hymen, Amor und Ehe.