Familie Dr. Norden 734 – Arztroman. Patricia VandenbergЧитать онлайн книгу.
die ein Patient weggeworfen hatte, eine Anzeige der Behnisch-Klinik in München gesehen hatte. Dort wurden erfahrene, freundliche Krankenschwestern für alle möglichen Bereiche gesucht. Noch am selben Abend hatte Johanna ihre Bewerbung mit Foto weggeschickt. Heimlich natürlich, denn ihre Eltern waren der Ansicht, ein junges, unverdorbenes Mädchen hätte in einer verruchten Großstadt wie München nichts verloren. In den schönsten Farben malte sie sich ihre Zukunft aus, weg aus dem Provinzkrankenhaus, hinein in das bunte Leben einer Privatklinik, die sie vom Vorstellungsgespräch kannte, zu dem sie bald darauf gebeten worden war. Ihr Jubel war grenzenlos gewesen, als sie die Zusage für eine der begehrten Stellen bekam.
Aber als sie ihren Eltern das Schreiben beim Mittagessen vorgelegt hatte, folgte die große Ernüchterung. Seitdem saß Johanna in ihrem Zimmer und schmollte, während Grete ihren schimpfenden Mann zu beruhigen versuchte. Dann war August Rehwald in seinen kleinen Lebensmittelladen zurückgekehrt. Stille breitete sich im Haus aus, die sich jetzt durch Margarethes geschäftiges Treiben in der Küche belebte.
Das war die Gelegenheit für Johanna. In plötzlicher Entschlossenheit stand sie auf, holte ihre Reisetasche aus dem Schrank und leerte ihre Kindheit mit einem Schwung aufs Bett. Kleine Püppchen, Glasmurmeln, Perlen und allerlei anderer Krimskrams kam zum Vorschein, Relikte einer glücklichen Zeit, die ein für allemal ein Ende gefunden hatte. Nur kurz mußte Johanna schlucken, dann machte sie sich an die Arbeit. Hosen, Pullover und Wäsche kamen in die Reisetasche, ebenso ihr bescheidener Vorrat an Kosmetika. Schuhe, ein paar Bücher, das Notizbuch und der abgeschabte Teddybär, dann war alles verstaut. Mit einem Ruck zog Johanna den Reißverschluß zu, steckte ihre Ersparnisse in die Hosentasche und sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, ehe sie leise die Tür öffnete und lauschte.
»Wo ist denn die Hanna?« Die tiefe Stimme ihres Vaters, der inzwischen aus dem Geschäft gekommen war, klang durch den Flur.
»Oben in ihrem Zimmer.«
»Bockt sie noch immer?«
»Kennst sie doch, deine Tochter«, entgegnete Margarethe lakonisch. »Sie sieht’s halt nicht ein, daß sie dableiben soll.«
»München ist zu gefährlich. Da laß ich nicht mit mir reden. Dann soll sie halt weiter bocken.« Nachdenklich zerteilte August die Kartoffeln auf seinem Teller, auf die Grete dicke Bratensoße löffelte. Er bemerkte nicht die Augen, die ihn heimlich dabei durch den Türspalt beobachteten, und auch Margarethe nahm ihre Tochter nicht wahr. Erst das leise Klappen der Haustür ließ sie aufhorchen.
»Was war denn das?« fragte sie und spähte durchs Fenster hinaus in den düsteren, nebligen Abend. Nichts war zu sehen, nur der Wind trieb die Blätter von den Bäumen. »Vielleicht ein Ast, der an der Tür schabt.«
»Ich hab’ nix gehört.«
»Dann hab’ ich mich wohl getäuscht.« Schulterzuckend ließ sich Grete auf der Bank neben ihrem Mann nieder und löffelte stumm ihr Abendessen, nachdem sie das Tischgebet gesprochen hatte.
Johanna wanderte unterdessen die dunkle Straße entlang zur Bushaltestelle. Die Wehmut war verflogen, und sie freute sich auf das Leben, das vor ihr lag. Ein spannendes, aufregendes Leben sollte es sein. Nur weg aus dem langweiligen Dorf.
Auch Fabian Reischl war an diesem späten Nachmittag zu der Ansicht gelangt, daß sein Leben eine Spur zu ereignislos war. Zumindest sein Geschäftsleben zog sich lähmend in die Länge, ohne daß auch nur ein Kunde den Laden betrat. Hin und wieder blieb ein Passant vor der geschmackvollen Auslage stehen und betrachtete die zart gemusterten Blechdosen mit Veilchenpastillen aus Frankreich, das eingelegte Gemüse aus Italien, die spanischen Oliven und den korsischen Schinken. Dem einen oder anderen lief dabei wohl auch das Wasser im Mund zusammen, das konnte Fabian an den leuchtenden Augen deutlich erkennen. Doch jeder widerstand an diesem Nachmittag der Versuchung. So beschäftigte sich Fabian damit, Warenlisten zu überprüfen, Dosen mit Wachteleiern und anderen Leckereien in die Regale zu räumen und mit dem Staubtuch über die honigfarbenen Holzregale und Kästchen zu wischen. Schließlich war alles getan und frustriert blickte er sich in seinem schönen Laden um. Was war das geschmackvollste Geschäft wert, wenn es keine Beachtung fand? Als sich Fabian schon dazu durchgerungen hatte, den Tag zu beenden und vor der Zeit abzuschließen, erschien wie aus dem Nichts eine Passantin aus der undurchdringlichen Dunkelheit und blieb vor dem beleuchteten Schaufenster stehen. Fabian zögerte einen Augenblick, ehe er zum Angriff überging, um wenigstens noch einen Kunden zu haben.
Entschlossen riß er die Ladentür auf, das kleine Glöckchen bimmelte aufgeregt.
»Wollen Sie nicht hereinkommen und sich hier drinnen umsehen? Schauen kostet nichts und ist wärmer.«
»Gern, vielen Dank.« Charlotte Pattis hob ihre braunen Augen und betrachtete ihr Gegenüber interessiert. »Sind Sie ein Verkäufer?«
»Mitnichten«, wehrte sich Fabian gekränkt. »Sie sprechen mit dem Inhaber persönlich.«
»Das trifft sich gut. Mein Name ist Pattis, Charlotte Pattis. Sie haben sicher schon von mir gehört.«
Fabian, der noch nichts von dem Besuch seines Vaters bei Frau Pattis wußte, riß die Augen weit auf.
»Ja, natürlich. Wer kennt Sie nicht?«
»Sehr schön. Dann kann ich ja gleich zur Sache kommen.« Während sie sprach, wanderte sie im Laden umher und ließ den Blick abschätzend über die Regalwände und Schränke gleiten. »Wie Sie sicher wissen, war Ihr Vater heute nachmittag bei mir. Er hat mir eine Teilhaberschaft angeboten.«
Vor Schreck verschluckte sich Fabian. Er hustete heftig, und es dauerte seine Zeit, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Entschuldigung, die Jahreszeit. Eine kleine Erkältung«, stammelte er verlegen. »Ja, ja, mein Vater sprach davon, Anteile verkaufen zu wollen. Dabei erwähnte er auch Ihren Namen.« Wenigstens erinnerte er sich an die Verhandlungskniffe, die ihm Jost beigebracht hatte.
»Gibt es viele Interessenten?« fragte Charlotte beiläufig. Sie hatte ihre Runde beendet und warf Fabian einen interessierten Blick zu. Er gefiel ihr sichtlich, der unverdorbene junge Mann mit dem offenen Gesicht. Fabian Reischl war so ganz anders als die aufgeblasenen, eingebildeten Weinkenner, mit denen sie es immer zu tun hatte. »Und warum wollen Sie überhaupt verkaufen, wenn das Geschäft so gut geht?«
»Taktik. Wir brauchen einen verläßlichen Weinhändler.«
»Dazu müßten Sie keine Anteile verkaufen, um den zu bekommen.«
»Ich habe meine Erfahrungen in der Branche gemacht und möchte einfach auf Nummer Sicher gehen«, erklärte Fabian vielsagend. Die Schule seines Vaters machte sich bemerkbar, er ließ sich nicht beeindrucken, auch wenn ihn die schöne kühle Charlotte nicht aus den Augen ließ. Fabian konnte nicht ahnen, daß ihr Interesse an ihm nicht nur geschäftlicher Natur war.
»Hm, ich verstehe.« Sie drehte sich um die eigene Achse, wohl wissend, wie sich ihr lockiges Haar dabei schmeichelnd um ihre Schultern legte. »Wirklich, ein sehr hübsches Geschäft. Falls ich tatsächlich einsteige, müßten allerdings einige Veränderungen vorgenommen werden. Sie müßten Weinregale aufstellen, kleine Stehtische, am besten mit Marmorplatte, das sieht sehr edel aus.«
»Aber da müßte ich mein eigenes Sortiment ja um die Hälfte kürzen«, entfuhr es Fabian.
Charlotte bedachte ihn mit einem stechenden Blick.
»Herr Reischl, Sie sollten sich schon überlegen, was Sie wollen«, erklärte sie mit samtweicher Stimme, die ihm eine Gänsehaut verursachte. »Wenn wir eine Partnerschaft anstreben, müssen wir uns hundertprozentig einig sein. Und das sage ich nicht nur so, das meine ich auch.«
»Ja, ja, natürlich«, beeilte sich Fabian zu versichern, der sich seiner Verhandlungspartnerin unterlegen fühlte. Um sie seine Verunsicherung nicht spüren zu lassen, drängte er auf ein Ende des Gesprächs. »Am besten, wir vereinbaren einen Termin gemeinsam mit meinem Vater. Dann können wir die Modalitäten klären.«
»Sämtliche Geschäftsunterlagen habe ich bereits angefordert. Selbstverständlich werde ich die von meinem Wirtschaftsprüfer genau unter die Lupe nehmen