Solo für Schneidermann. Joshua CohenЧитать онлайн книгу.
am Tag,
ein kahler Mann wie Pan mit knochigem Schädel und höckriger Stirn, die Amerikaner an einen Dinosaurier erinnern könnte, Juden an einen Propheten wie Jeremia oder Moses und die die Europäer – falls noch welche übrig sind – einst als un double front bezeichneten.
Ein kahler Knochen von Mann, der es sich zur Gewohnheit machte, eine auf der Straße gefundene Damenperücke zu tragen,
das Müllcontainertauchen, sagte Schneidermann oft, sollte als olympische Disziplin anerkannt werden,
Schneidermann, er dachte immer an die Griechen,
ein Mann, der einst beim Spazierengehen und weil er immer Schuhe trug, die ihm zu groß und zu weit waren, weswegen sie ihm immer von den Füßen fielen, in Midtown von einer Schlange in die Ferse von welchem Fuß weiß ich nicht mehr gebissen wurde. Die Schlangensorte weiß ich auch nicht mehr. Er überlebte.
Schneidermann zu mir: ich kam in Miskolc zur Welt, aber wir wohnten in Nyíregyháza, in Debrecen, in Békéscsaba, in Orosháza – unterbrechen Sie mich, wenn ich mich ereifere, ich dachte immer, die Vergangenheit wäre vergangen, und wer will sich da schon dran erinnern? habe ich immer gedacht,
wenn man als Musiker geboren wird, wird man der Welt geboren, wie Schneidermann, er sagte das immer.
Schneidermann zu mir: wir hatten kein Geld.
Schneidermann zu mir: wir waren arm.
Schneidermann zu mir: nach dem Tod meines Vaters.
Schneidermann zu mir: meine erste Komposition,
mein Opus I,
offen gestanden, betrachte ich es nicht als
Teil meines Werks,
also meine allererste Komposition wurde
für vier Stimmen geschrieben, SATB, ein Choral – ich war vier Jahre alt, ich war fünf, Schneidermann, ein anderes Mal sagte er, er wäre drei gewesen – zu einem Text meiner Mutter,
seine Mutter, sie starb bei der Geburt,
Zwillinge,
ein Rudy und ein Schneidermann waren sie,
zu einem Text von Goethe,
zu einem Text von mir, in meinem äußerst primitiven Hebräisch, das ich bei einem abtrünnigen Melamed gelernt hatte, der:
Gar manches Herz verschwebt (Bass und Tenor im Kanon) im Allgemeinen (Alt), Doch (Sopran) widmet sich das edelste dem Einen, und Schneidermann der Eine, er erzählte mir das mal während dreier meiner Mentholzigaretten gegen einen seiner dreizehnfachgefilterten Kaffees, ich sang den Eunuchensopran, sein Vater den Alt, die eine Tante den Tenor und eine andere den Bass, und bei der Welt-, wenn nicht intergalaktischen Universumspremiere, Schneidermann er dirigierte sie vom Klavier aus, verbleute und vertrimmte, klimperdrosch mit den Unterarmen drauflos, verdoppelte sie auf dem alten Pianino, dem asthmatischen, schimmelfleckigen Spinett, das sie hatten, bis Schneidermann zwölf wurde, und die Tanten, sie schenkten ihm den Flügel, opferten ihr ganzes Vermögen seiner Kunst, und mehr als das hat auch Schneidermann sich schließlich nie abverlangt – er opferte seine Gesundheit (für ihn war das ein Tag der Asiatischen Grippe, zu einer Zeit, als ein Tag mit Asiatischer Grippe bereits der letzte sein konnte), um mir aus dem Gedächtnis diese seine allererste Komposition vorzuspielen, denn die Partitur war im Krieg verloren gegangen, den Schneidermann oft mit den Worten
was geschah oder
das was geschehen war umschrieb – das war vor sechs, sieben Jahren unten in meiner alten Wohnung in Midtown (Westside; nie wieder zieh ich auf die Eastside), jetzt die einer Exfrau, genauer gesagt eines angeheirateten Ehemanns, als wir, Schneidermann und ich, zusammen probten und ich aus irgendeinem Grund begriff, dass dies eine weitere Sonate für Geige und Klavier war, die Schneidermann nie vollenden sollte, und nachdem er meinen zweiten Einsatz bei Takt 94 unterbrochen hatte, um mir dieses Jugendwerk vorzuspielen (die Melodien besaßen eine gewisse Verwandtschaft),
mein Opus –1, mein prähumes Opus, wenn man so will, wenn man es so nennen soll, sagte Schneidermann:
dann erschieß mich doch! ich war eben jung!
und um mit dem Trauma fertigzuwerden,
dem was geschah, dem
was geschehen war,
mit ansehen zu müssen, wie meine damalige Frau vor meinem Auge totgeschlagen wurde (Polen, 1944), es wäre verrückt, dies seinen reifen Werken an die Seite zu stellen, dieses Werk – eine Fingerübung – neben den späten großen Meisterwerken gelten zu lassen, die ihren Vorbildern gleichkamen oder sie gar übertrafen:
etwa die drei berüchtigten Hammerschläge in Mahlers 6. Sinfonie von 1906: die gegen den Juden erzwungene Beendigung seiner Intendanz an der Hofoper in Wien, der Tod seiner vierjährigen Tochter Maria, die Diagnose seiner eigenen tödlichen Herzkrankheit durch einen gewissen Doktor Marianus – ist noch einer im Haus? mal die Nachwelt anpiepsen! alles umgestaltet, wiederbelebt, erneuert und reinkarniert in Schneidermanns nie eingestandenen Diebstählen, Bearbeitungen, Entlehnungen wie beispielsweise die gesamten acht Takte Note für Note des eventuell noch bevorstehenden zweiten und letzten Satzes, die ohne ihre Orchestrierung, ohne Anerkennung, Danksagung oder auch nur einen vordatierten persönlichen Scheck an Arnold Schönberg aus Der biblische Weg des Meisters von 1926/27 entnommen wurden, in dem sich schon das spätere Opernmeisterwerk Moses und Aron ankündigt, wobei die beiden Tafelbrüder zu einer Figur verschmelzen, einem Max Aruns, ein Name, den Schneidermann als Pseudonym benutzte, als er in den Fünfzigern und Sechzigern in dem von Kakerlaken befallenen und rattenschissverspachtelten Stehplatz an der Westside lebte, bevor ich dort einzog,
oder dass Schönberg, wie er sich ursprünglich schrieb, in seinen neuen Papieren Schoenberg, in Los Angeles, im schönen Kalifornien, das Ding nicht vollenden konnte, sich nicht überwinden konnte, seine letzte und einzige Oper zu vollenden, allem zum Trotz den dritten und letzten Akt nicht vollenden konnte, wie Keine-Lyrik-nach-Auschwitz-Adorno aufzeigte, der selbst dem Schweigen, der Formlosigkeit und dem Nichts zum Opfer fiel; Zunichtewerden als Strafe für den Verstoß gegen das zweite Gebot gegen die Anfertigung oder Neugestaltung von Götzenbildern, die Moses da irgendwann irgendwo zerschlägt, während Schönberg jahrelang! jahrelang! – in Amerika, am Pazifik, dem falschen Ozean – er zögerte, die erste und einzige Szene von Akt III, dem letzten Akt, zu vertonen, oder dass er kurz vor seinem Tod doch einwilligte – oder einlenkte? – jedenfalls erklärte er sich einverstanden, dass der dritte Akt seines Meisterwerks »ohne Musik, bloß gesprochen aufgeführt wird«, falls er die Komposition in seinen letzten Tagen nicht vollenden könne, was er nicht konnte und was sie waren,
die ersten beiden Akte des besagten Werks funktionieren aber, zumindest in meinem Ohr (oder in meiner Erinnerung, denn die ersten, letzten und einzigen Male hörte ich es einmal von Schneidermann und einmal in der Met, wo ich während der Szene ums Goldene Kalb mit einer Kuh von Komparsin schlief),
sie hören sich absolut wie ein absolut unironisches Plagiat in ganz und gar böser Absicht an – wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, denn Schneidermann, er war oft mein Gedächtnis, und in einem seltenen Augenblick der Stärke fasste er sich ein Herz und stellte klar: dass jene Oper in der Tat großenteils ein Takt-für-Takt- und oft sogar Note-für-Note-für-Note-Diebstahl von seiner, Schneidermanns, eigener und einziger Oper war, Die Ziege von 1932/33,
La Capra, wie sie in der alten Sprache der Oper geheißen hätte, war seine einzige, erste und letzte Oper: ein Bombenerfolg, durch den sich für ihn alles veränderte, was sich ein paar Jahre später, sieben, sechs, erneut verändern sollte, ihm haufenweise Ruhm und Geld einbrachte, was er durch den Krieg schnell wieder einbüßte, mit dem Libretto eines gewissen Zed Hofmeister (mit einem f, wie er einem einschärfte), einem vor Schönheit aufgeblasenen Salonlöwen aus Berlin, der Schneidermann erst seine Schwester und dann seine Frau umwerben ließ, während er selbst loszog und Ärsche lutschte oder jedenfalls alles Mögliche anstellte, außer an der Ziege zu arbeiten (durch die Post brauchte er drei Jahre),
sein Libretto handelt von einem ausgeleierten wenn nicht damals schon total abgedroschenen