Chefarzt Dr. Norden 1171 – Arztroman. Jenny PergeltЧитать онлайн книгу.
dass sie nun erneut auf den schmutzigen Fliesen lag. Ihr ging es so schlecht, dass sie meinte, diesen Zustand nicht länger aushalten zu können. Wo sie war oder warum sie hier lag, interessierte sie nicht mehr. Sie wollte nur noch, dass alles ein Ende hatte und sie wieder zu Hause war. Sie wollte zu Oliver. Sie wollte ihn bei sich haben, damit er sie beschützen konnte.
Ohne es zu merken, dämmerte sie wieder weg. Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, teilte sich gerade die Menschenmenge, um zwei Männer vom Rettungsdienst durchzulassen. Sie stellten sich ihr als Dr. Steinbach und Jens Wiener vor. Doch Sekunden später hatte sie diese Namen bereits vergessen. Als sie nach ihrem gefragt wurde, brauchte sie eine Weile, um sich an ihn erinnern zu können.
»Ich heiße … Anita … Weber. Ich heiße Anita Weber.«
Auch die nächsten Fragen bereiteten ihr große Mühe. Auf Anhieb wusste sie weder ihre Anschrift noch ihr Geburtsjahr oder den Wochentag. Sie musste lange überlegen, bis ihr die Antworten dazu einfielen. Doch zu dem, was mit ihr geschehen war, konnte sie überhaupt nichts sagen. Es war vollkommen aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie war froh, dass es genügend Zeugen gab, die den Sturz beobachtet hatten und nun davon berichten konnten. In Anitas Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, in dem nichts mehr an seinem angestammten Platz war.
Nachdem Jens Wiener, der Rettungssanitäter, den Blutdruck gemessen hatte, holte Dr. Fred Steinbach eine kleine Taschenlampe heraus. Anita musste ihre Augen schließen, sie wieder öffnen und anschließend dem hellen Licht der Lampe folgen.
»Vielen Dank, Frau Weber.« Fred Steinbach steckte die Lampe wieder ein. »Fürs Erste sind wir hier fertig.«
»Dann kann ich also endlich nach Hause?«, fragte Anita matt. Auf ihrer hellen Leinenhose waren unschöne Schmutzflecken zu sehen, ihr war kalt, sie fühlte sich erschöpft und müde. Sie wollte nur noch fort von hier. Fort von der dichten Menschentraube, von der sie sich belagert und beobachtet fühlte.
»Sie können nicht nach Hause«, erwiderte der nette Arzt ruhig. »Wir bringen Sie in die Klinik, damit Sie dort gründlich untersucht werden.«
»In die Klinik?« Anita rieb sich die Schläfen, weil die Schmerzen wieder zunahmen. »Aber … aber ich bin doch nicht krank. Ich bin nur hingefallen.«
»Sie haben sich bei dem Sturz am Kopf verletzt.«
Anita tastete mit einer Hand über ihren Hinterkopf und zuckte zurück, als sie die schmerzhafte Stelle erwischte. »Es ist nur eine harmlose Beule.«
»Mag sein. Auch eine Gehirnerschütterung wäre denkbar. Immerhin waren Sie mehrere Minuten bewusstlos. Dazu kommen noch der Schwindel und die Übelkeit, von der Sie uns berichtet haben. Es muss abgeklärt werden, ob nicht eine ernsthaftere Verletzung dahintersteckt.«
Nicht nur die Worte des Rettungsarztes überzeugten Anita. Auch das große Bedürfnis, den neugierigen Blicken der Passanten zu entkommen, ließ sie zustimmen. Doch sobald sie im Rettungswagen lag, kehrten die Zweifel zurück.
»Vielleicht könnten Sie mich ja auch einfach zu Hause absetzen? Mir geht’s doch schon viel besser. Außerdem habe ich nachher einen sehr wichtigen Termin, zu dem ich auf gar keinen Fall zu spät kommen darf.«
Anita machte Anstalten, sich aufzurichten, und Fred drückte sie sanft auf die Trage zurück. »Was ist das denn für ein wichtiger Termin? Was haben Sie vor?«
»Ich …« Anita brach ab und überlegte so angestrengt, dass der Kopfschmerz stärker wurde. Warum fiel ihr nicht ein, wohin sie so dringend wollte? »Um zwölf«, stieß sie schließlich hervor. »Mein Termin ist um zwölf. Dann muss ich unbedingt zu …« Plötzlich traten ihr die Tränen in die Augen, und sie schluchzte leise auf. »Was ist denn nur los mit mir? Warum kann ich mich nicht daran erinnern? Der Termin ist doch so wichtig!«
»Frau Weber, bitte regen Sie sich nicht auf. Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass Sie in der Klinik Hilfe bekommen werden.«
»Aber das ist doch nicht normal, dass ich mich nicht mehr richtig erinnern kann! Ich weiß noch nicht mal, warum ich in diesem Einkaufscenter war oder wie ich dorthin gekommen bin.« Anita hatte nun heftig zu weinen begonnen. Sie hatte Angst, fürchterliche Angst, und sie wusste nicht, warum das so war. Sie wusste nur, dass hier irgendetwas schrecklich schieflief und dass sie gerade die Kontrolle über ihr Leben verlor.
Fred versuchte, sie zu beruhigen. Diese Aufregung war nicht gut für seine verwirrte Patientin. »Gedächtnislücken sind bei einem Schädelhirntrauma völlig normal und kein Grund, sich unnötig Sorgen zu machen. Mit etwas Ruhe wird es Ihnen bald wieder besser gehen.«
»Also kann ich doch nach Hause?«, fragte Anita schluchzend. »Wenn ich mich ausruhen soll, muss ich doch jetzt nach Hause, nicht wahr?«
»Bald«, sprach er besänftigend auf sie ein, als wäre sie ein Kleinkind. »Bald können Sie nach Hause, Frau Weber. Wir machen nur noch einen kleinen Abstecher in die Behnisch-Klinik für eine kurze Untersuchung. In Ordnung?«
Anita nickte zögernd und signalisierte damit ihr Einverständnis.
»Können wir jemanden für Sie benachrichtigen? Haben Sie Familie?«
»Ja … Ich glaube schon.« Sie schloss die Augen, weil ihr die Dunkelheit beim Nachdenken half. »Ich habe einen Verlobten. Sein Name ist … Oliver.« Anita lächelte den Arzt glücklich an. Sie war verlobt! Oliver war ihr Verlobter, und sie liebten sich. Er würde ihr beistehen. Nun gab es nichts mehr, was ihr Angst machte!
*
In der Notaufnahme der Behnisch-Klinik war es heute ruhiger als sonst. Dr. Martin Ganschow, der hier als Assistenzarzt arbeitete, wusste, dass sich das schnell ändern konnte. Von einer Sekunde auf die andere konnte sich ein entspannter Dienst zu einem wahren Albtraum wandeln, in dem sich plötzlich Schwerkranke und Unfallopfer die Klinke in die Hand gaben. Das störte ihn nicht. Er liebte es, wenn es anspruchsvoll zuging und er zeigen konnte, was in ihm steckte.
Nach seinem Medizinstudium hatte Martin direkt an der Behnisch-Klinik angefangen. Er war jetzt im vierten Jahr hier, und manchmal fiel es ihm schwer, dieses große Glück wirklich fassen zu können. Für ihn fühlte sich dieser Job wie ein Sechser im Lotto an. Die Klinik besaß einen ausgezeichneten Ruf und war dafür bekannt, gerade Berufsanfängern einen guten Start zu ermöglichen und sie in ihrer weiteren Ausbildung zu unterstützen und zu fördern. So besaß Martin inzwischen nicht nur seinen Doktortitel, sondern war auch mitten in der Facharztausbildung. Dass das nicht in allen Kliniken so unproblematisch vonstattenging und die Qualifizierung oft unter dem hohen Arbeitspensum und den vielen Diensten leiden musste, wusste er. Umso dankbarer war er für die große Chance, die ihm hier geboten wurde.
Martin liebte seine Arbeit und das ganze Team der Notaufnahme –, selbst Dr. Erik Berger, den Abteilungsleiter. Anfangs war es für ihn nicht leicht gewesen, mit der grantigen und unwirschen Art seines Chefs klarzukommen. Er musste ihn erst näher kennenlernen, um zu erkennen, dass Berger nicht nur der beste Notfallmediziner Münchens war, sondern auch ein hervorragender Mentor, dem das Wohlergehen seiner Schützlinge am Herzen lag und der alles tat, damit sie bei ihm die bestmögliche Ausbildung erhielten. Natürlich würde Erik Berger das niemals zugeben. Er kommandierte seine Assistenzärzte herum, verlangte ihnen alles ab, prüfte ihr Wissen ständig auf Herz und Nieren und behandelte sie, als wären sie nur dafür da, um ihm oder den Patienten gefällig zu sein. Und trotzdem verehrten sie ihn. Sie wussten, er stand zu ihnen und tat alles, damit aus ihnen hervorragende Fachärzte wurden.
Als Anita Weber in der Notaufnahme ankam, war Dr. Berger nicht da. Zusammen mit den anderen Abteilungsleitern und Oberärzten der Behnisch-Klinik war er in einem Meeting bei Dr. Daniel Norden. Selbstverständlich könnte Martin jederzeit Unterstützung anfordern, falls es nötig sein sollte. Dr. Berger wäre in wenigen Minuten bei ihm. Aber in diesem Fall war das nicht erforderlich. Die junge Frau, die die Rettungswache angekündigt hatte, war in einer Einkaufspassage ausgerutscht und sollte hier durchgecheckt werden. Für den jungen Arzt stellte das keine große Herausforderung dar. Damit würde er auch gut allein fertig werden.
»Ist sie noch nicht da?« Dr. Jakob Janssen schaute zu