Der Tod auf dem Nil. Agatha ChristieЧитать онлайн книгу.
liebt und nicht Jackie. Was soll er machen? Den edlen Helden spielen und eine Frau heiraten, die ihm nichts bedeutet – also womöglich drei Leben zerstören? Denn ob er Jackie unter solchen Bedingungen noch glücklich machen kann, ist doch wohl fraglich. Wäre er, als er mich kennenlernte, schon mit ihr verheiratet gewesen, würde ich auch denken, es wäre seine Pflicht gewesen, bei ihr zu bleiben – obwohl ich nicht ganz sicher bin. Wenn einer von beiden unglücklich ist, leidet auch der andere. Aber eine Verlobung ist noch keine feste Bindung. Und wenn sie ein Irrtum war, dann stellt man sich dieser Tatsache doch bestimmt besser, bevor es zu spät ist. Ich gebe zu, es war sehr hart für Jackie, und das tut mir auch sehr leid – aber es ist nun mal so. Es war unausweichlich.«
»Wirklich?«
Sie starrte ihn an. »Was meinen Sie denn damit?«
»Alles sehr nachfühlbar, sehr logisch, was Sie sagen! Aber eins erklärt es nicht.«
»Und was ist das?«
»Ihr eigenes Verhalten, Madame. Wissen Sie, dass Sie verfolgt werden, könnte zweierlei bei Ihnen auslösen. Es könnte Sie entweder ärgern – ja, oder Ihr Mitleid erregen, weil Ihre Freundin so tief verletzt ist, dass sie ihr gesamtes Anstandsgefühl über den Haufen wirft. Aber so reagieren Sie nicht. Sie empfinden diese Nachstellungen als Zumutung – warum eigentlich? Es gibt nur einen möglichen Grund – Sie verspüren ein Gefühl von Schuld.«
Linnet sprang auf. »Was erlauben Sie sich! Wirklich, Monsieur Poirot, das geht zu weit.«
»Ich erlaube es mir eben, Madame! Ich werde auch weiterhin in aller Offenheit mit Ihnen sprechen. Ich behaupte, Sie haben, obwohl Sie sich alle Mühe gegeben haben, das vor sich selbst zu vertuschen, Ihrer Freundin willentlich den Mann weggenommen. Ich behaupte, Sie haben sich augenblicklich von ihm angezogen gefühlt. Ich behaupte, dass es einen Moment des Zögerns gab, in dem Ihnen klar war, dass Sie die Wahl hatten – abzulassen oder weiterzumachen. Und ich behaupte, dass die Entscheidung bei Ihnen lag – nicht bei Monsieur Doyle. Sie sind schön, Madame, Sie sind reich, Sie sind klug und intelligent – und Sie haben Charme. Mit diesem Charme können Sie jemanden für sich einnehmen, Sie können ihn aber auch zügeln. Sie hatten alles, Madame, was das Leben zu bieten hat. Das Leben Ihrer Freundin dagegen hing an einem einzigen Menschen. Das wussten Sie, und trotzdem haben Sie zwar kurz gezögert, aber nicht Ihre Hand zurückgehalten. Sie haben zugefasst und wie der reiche Mann in der Bibel dem armen sein einziges Schaf genommen.«
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Schließlich riss sich Linnet zusammen und sagte kalt: »All das gehört wohl kaum zum Thema!«
»O doch, es gehört zum Thema. Ich erkläre Ihnen gerade, warum die plötzlichen Auftritte von Mademoiselle de Bellefort Sie so aus der Fassung bringen. Das liegt daran, dass Sie innerlich überzeugt sind, sie ist, auch wenn sie sich für eine Frau noch so unwürdig und unpassend benimmt, im Recht.«
»Das stimmt nicht.«
Poirot zuckte die Schultern. »Sie weigern sich, ehrlich zu sich selbst zu sein.«
»Überhaupt nicht.«
Poirot erwiderte mild: »Ich möchte meinen, Madame, dass Sie immer ein glückliches Leben hatten und sich gegenüber anderen immer großzügig und freundlich verhalten haben.«
»Ich habe es jedenfalls versucht.« Erbostheit und Ungeduld verschwanden aus Linnets Gesicht. Sie klang jetzt ganz einfach – fast hilflos.
»Und deshalb bringt das Gefühl, dass Sie jemandem willentlich weh getan haben, Sie so aus der Fassung, und Sie sperren sich so sehr dagegen, es sich einzugestehen. Verzeihen Sie, wenn ich unverschämt geworden bin, aber Psychologie ist immer der wichtigste Tatbestand bei einem Fall.«
Langsam antwortete Linnet: »Selbst wenn man davon ausgeht, dass Sie recht haben – was ich nicht tue, kein Missverständnis, bitte –, was könnte man jetzt noch machen? Man kann die Vergangenheit nicht ändern; man muss doch die Dinge nehmen, wie sie sind.«
Poirot nickte. »Sie haben einen klaren Verstand, Madame. Nein, man kann Vergangenes nicht noch einmal und anders machen. Man muss die Dinge akzeptieren, wie sie sind. Und das, Madame, ist manchmal alles, was man überhaupt tun kann – die Folgen seiner vergangenen Taten auch akzeptieren.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte Linnet ungläubig, »ich kann sonst nichts tun – gar nichts?«
»Sie müssen wohl tapfer sein, Madame; so jedenfalls sieht es für mich aus.«
Zögernd fragte Linnet weiter: »Könnten Sie nicht – mit Jackie – mit Miss de Bellefort reden? Sie zur Vernunft bringen?«
»Doch, das könnte ich. Ich rede mir ihr, wenn Sie das möchten. Aber versprechen Sie sich nicht allzu viel davon. Ich könnte mir vorstellen, dass Mademoiselle de Bellefort so im Banne ihrer fixen Idee ist, dass nichts sie davon abbringen wird.«
»Aber wir müssen doch irgendetwas machen können, um aus dieser Klemme herauszukommen?«
»Sie könnten natürlich nach England zurückkehren, in Ihr eigenes Haus.«
»Selbst wenn, Jackie wäre vermutlich imstande, sich im Ort einzuquartieren, damit ich sie jedes Mal, wenn ich mein Grundstück verlasse, sehen muss.«
»Richtig.«
»Außerdem«, setzte Linnet langsam hinzu, »glaube ich nicht, dass Simon bereit wäre, vor ihr wegzulaufen.«
»Wie steht er denn zu der ganzen Sache?«
»Er ist wütend – einfach wütend.«
Poirot nickte und dachte nach.
»Werden Sie mit ihr reden?«, flehte Linnet ihn an.
»Ja, das werde ich. Aber meiner Meinung nach werde ich damit nichts ausrichten.«
Heftig sagte Linnet: »Jackie ist sehr eigen! Man weiß nie, was sie als Nächstes tut!«
»Sie sprachen vorhin von bestimmten Drohungen, die sie ausgestoßen hat. Würden Sie mir sagen, was für Drohungen das waren?«
Linnet zuckte die Schultern. »Sie hat gedroht, uns – nun ja, uns beide umzubringen. Jackie kann manchmal ziemlich – südländisch sein.«
»Ich verstehe«, sagte Poirot ernst.
Linnet flehte ihn noch einmal an. »Wollen Sie für mich tätig werden?«
»Nein, Madame«, erwiderte er fest. »Ich nehme keinen Auftrag von Ihnen an. Ich will gern, im Interesse der Menschlichkeit, tun, was ich kann. Das schon. Wir haben hier eine sehr schwierige und gefahrvolle Situation. Ich will gern tun, was ich kann, um sie zu klären – aber sehr zuversichtlich, was meine Erfolgschancen betrifft, bin ich nicht.«
Langsam fragte Linnet Doyle noch einmal: »Und für mich tätig werden wollen Sie nicht?«
»Nein, Madame«, sagte Hercule Poirot.
Fünftes Kapitel
Hercule Poirot fand Jacqueline de Bellefort auf einer Bank auf einem der Felsen, von denen aus man auf den Nil hinuntersehen konnte. Er war sicher gewesen, dass sie noch nicht schlafen gegangen war und er sie irgendwo draußen auf dem Hotelgelände finden würde. Sie saß da, das Kinn in beide Handflächen gelegt, und drehte weder den Kopf, noch wandte sie sich beim Geräusch seiner Schritte um.
»Mademoiselle de Bellefort?«, fragte Poirot. »Gestatten Sie, dass ich einen Augenblick mit Ihnen rede?«
Jetzt drehte sie leicht den Kopf. Ein schwaches Lächeln spielte um ihren Mund. »Sicher. Sie sind Monsieur Hercule Poirot, ja? Darf ich raten? Mrs Doyle hat Sie beauftragt und Ihnen ein dickes Honorar versprochen, wenn Ihr Einsatz Erfolg hat.«
Poirot setzte sich neben sie. »Ihre Annahme ist teilweise richtig.« Er lächelte. »Ich komme eben von Mrs Doyle, aber ich nehme von ihr keinerlei Honorar an und bin strenggenommen auch nicht von ihr beauftragt.«
»Oh!« Jacqueline musterte ihn aufmerksam und fragte dann barsch: »Und