Der Tod auf dem Nil. Agatha ChristieЧитать онлайн книгу.
unglaublich arglos und jungenhaft und einfach zum Anbeten! Arm ist er auch – Geld hat er nicht. Ist zwar echter ›Landadel‹, wie man so sagt – aber verarmter Adel. Er ist auch nicht der älteste Sohn und so weiter. Seine Familie stammt aus Devonshire. Er liebt das Landleben und alles, was dazugehört. Und die letzten fünf Jahre hat er in London in einem muffigen Büro gehockt, aber die entlassen jetzt Leute, und er ist die Stelle los. Linnet, ich sterbe, wenn ich ihn nicht heiraten darf! Ich sterbe! Ich sterbe! Ich sterbe …«
»Sei nicht albern, Jackie.«
»Ich sterbe, ich schwör’s dir! Ich bin verrückt nach ihm. Wir können ohne einander nicht leben.«
»Liebling, dich hat’s wirklich erwischt!«
»Ich weiß. Schrecklich, nicht? Wenn die Liebe einen mal erwischt, kann man nichts mehr machen.« Sie hielt einen Augenblick inne. Ihre dunklen Augen wurden noch größer und bekamen einen tragischen Blick. Sie schauderte leicht. »Das macht einem sogar manchmal Angst! Simon und ich sind füreinander geschaffen. Ich werde so etwas nie wieder für jemanden fühlen. Und du musst uns helfen, Linnet. Ich habe erfahren, dass du das Anwesen hier gekauft hast, und mir ist eine Idee gekommen. Hör mal, du brauchst einen Verwalter – vielleicht sogar zwei. Ich möchte, dass du eine Stelle Simon gibst.«
»Oh!« Linnet war verblüfft.
Jacqueline ließ nicht locker. »Er kann das alles mit links. Er weiß alles über Landgüter – er ist ja auf einem aufgewachsen. Und das Kaufmännische hat er auch gelernt. Oh, Linnet, du gibst ihm doch die Stelle, ja? Aus Liebe zu mir. Wenn er sich nicht bewährt, schmeiß ihn wieder raus. Aber er wird sich bewähren. Und wir können in ein kleines Haus ziehen, und ich kann dich ganz oft sehen, und der Garten wird ein einziger Traum sein.«
Sie stand auf. »Sag ja, Linnet. Sag ja. Wunderschöne Linnet! Großartige, goldene Linnet! Meine einzige, ganz besondere Linnet! Sag ja!«
»Jackie –«
»Sagst du ja?«
Linnet fing an zu lachen. »Alberne Jackie! Bring ihn her, deinen Mann, ich sehe ihn mir an, und dann reden wir darüber.«
Jackie fiel über sie her und deckte sie mit Küssen zu. »Linnet, Liebling – du bist eine wahre Freundin! Ich wusste es. Du würdest mich nicht im Stich lassen – niemals. Du bist das Liebenswerteste auf der Welt. Adieu.«
»Aber, Jackie, du bleibst doch.«
»Ich? Nein. Ich fahre sofort zurück nach London, und morgen komme ich mit Simon wieder und wir bringen alles unter Dach und Fach. Du wirst ihn anbeten. Er ist ein richtiger Schmusekater.«
»Kannst du denn nicht noch zum Tee bleiben?«
»Nein, kann ich nicht, Linnet. Ich bin viel zu aufgekratzt. Ich muss zu Simon und ihm alles erzählen. Ich weiß, ich bin verrückt, aber ich kann nicht anders. Die Ehe wird mich hoffentlich kurieren. Soll einen ja sehr ernüchtern.«
An der Tür machte sie plötzlich kehrt, blieb einen Augenblick stehen und flatterte dann noch einmal zurück zu Linnet und umarmte sie. »Liebe Linnet, so jemanden wie dich gibt’s nicht noch einmal.«
VI
Monsieur Gaston Blondin, der Wirt des mondänen kleinen Chez Ma Tante, war keiner von den Restaurantbesitzern, die jedem Gast entzückt die Honneurs machen. Selbst die Reichen und Schönen, die Prominenz und der Adel warteten gelegentlich vergebens darauf, von ihm erkannt und mit besonderer Aufmerksamkeit geehrt zu werden. Er ließ sich nur in den seltensten Fällen gnädig herab, einen Gast persönlich zu begrüßen, an einen der besseren Tische zu geleiten und ein paar wohlgesetzte Worte mit ihm zu wechseln.
An diesem Abend hatte er seine königliche Gunst allerdings schon drei Leuten erwiesen – einer Herzogin, einem berühmten adligen Rennstallbesitzer sowie einem kleinen Mann mit einem enormen Moustache, der komisch aussah und dessen Anwesenheit, so würde ein zufälliger Augenzeuge wohl schließen, dem Chez Ma Tante eigentlich nichts zu bieten hatte.
Aber gerade ihm gegenüber war Monsieur Blondin von beinah schmieriger Beflissenheit. Die ganze letzte halbe Stunde lang hatten Gäste zu hören bekommen, es sei kein Tisch mehr zu haben, aber plötzlich und unerklärlich gab es sehr wohl einen, an allerbester Stelle. Und Monsieur Blondin begleitete seinen Gast mit überaus servilen Gesten dorthin.
»Aber natürlich, Monsieur Poirot, für Sie ist doch immer ein Tisch frei! Sie sollten uns unbedingt öfter die Ehre geben!«
Hercule Poirot lächelte, und ein anderes Essen hier fiel ihm wieder ein, bei dem eine Leiche, ein Kellner, Monsieur Blondin und eine bildhübsche Lady eine Rolle gespielt hatten. »Sie sind zu liebenswürdig, Monsieur Blondin«, sagte er schließlich.
»Und Sie sind allein, Monsieur Poirot?«
»Ja, ich bin allein.«
»Oh, na dann wird unser Jules hier ein kleines Menü für Sie zusammenstellen, und das wird ein Gedicht – ein wahres Gedicht! Frauen, so bezaubernd sie auch sind, haben ja doch einen Nachteil: Sie lenken den Geist vom Essen ab! Es wird Ihnen munden, Monsieur Poirot, das verspreche ich Ihnen. Was den Wein angeht –«
Es folgte ein Fachgespräch, assistiert von Jules, dem Maître d’hôtel.
Monsieur Blondin zögerte einen Augenblick, bevor er den Tisch verließ, und fragte dann vertraulich leise: »Haben Sie wieder wichtige Geschäfte zu erledigen?«
Poirot schüttelte den Kopf. »Ich bin doch nur ein Mann der Muße«, erwiderte er sanft. »Ich habe beizeiten gespart und kann es mir jetzt leisten, mich einem beschaulichen Dasein hinzugeben.«
»Ich beneide Sie.«
»Nein, nein, Sie wären töricht, wenn Sie das täten. Ich kann Ihnen versichern, es ist längst nicht so vergnüglich, wie es klingt.« Er seufzte. »Wie recht hat doch das Sprichwort, dass der Mensch die Arbeit notgedrungen erfinden musste, um dem Zwang zum Denken zu entgehen.«
Monsieur Blondin riss die Arme hoch. »Aber es gibt doch so vieles! Man kann reisen!«
»Ja, man kann reisen. Darin bin ich auch schon ganz gut. In diesem Winter fahre ich, glaube ich, mal nach Ägypten. Das Klima soll dort superb sein! Da kann man dem Nebel, dem Grau, der Eintönigkeit des ewigen Regens entfliehen.«
»Ah – Ägypten«, hauchte Monsieur Blondin.
»Man soll jetzt wohl sogar mit dem Zug hinkommen und sich die Seefahrerei ersparen können, außer über den Kanal natürlich.«
»Ja, das Meer. Meint’s nicht gut mit Ihnen?«
Hercule Poirot schüttelte leise schaudernd den Kopf.
»Geht mir genauso«, sagte Monsieur Blondin mitfühlend. »Eigentlich kurios, was das Meer mit dem Magen macht.«
»Aber nur mit bestimmten Mägen! Es gibt Leute, die sind vom Wellengang überhaupt nicht zu beeindrucken. Die genießen ihn regelrecht!«
»Eine Ungerechtigkeit vom lieben Gott«, sagte Monsieur Blondin, bevor er sich endlich zurückzog, mit bedauerndem Kopfschütteln seinen ketzerischen Gedanken nachhängend.
Flinke Kellner schwirrten auf leisen Sohlen um den Tisch, mit Toast Melba, Butter, einem Eiskübel und allen weiteren Ingredienzen eines erstklassigen Essens. Dazu spielte sich eine Jazzband in eine Ekstase aus eigentümlichen Missklängen. London tanzte.
Hercule Poirot sah zu und registrierte alle Eindrücke in seinem wohlsortierten, aufgeräumten Hirn. Wie gelangweilt und überdrüssig die meisten dreinsahen! Ein paar von den dickeren Männern allerdings hatten ihren Spaß. In den Gesichtern ihrer Tanzpartnerinnen dagegen stand anscheinend nur geduldig ertragene Qual zu lesen. Aber die fette Frau in Purpurrot strahlte vor Freude. Ganz offensichtlich bot das Leben Entschädigung für Fett – Vitalität, Schwung, lauter Dinge, die Leuten mit modischeren Figuren verwehrt blieben.
Ein versprengtes Häuflein junger Menschen – ein paar mit den Gedanken woanders – ein paar gelangweilt