Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt. Norbert OrtgiesЧитать онлайн книгу.
die elfte Klasse (Obersekunda) versetzt worden.14 Doch schon Weihnachten 1926 ließ der hoffnungsvolle Spross seine Eltern brieflich wissen, dass er sich nicht mehr vorstellen könne, Priester zu werden und am liebsten auch gleich das Gymnasium wieder verlassen wollte.15 Er wolle lieber ein Handwerk erlernen.16 Im Nachhinein machte er sich deswegen Vorwürfe: „Meiner Mutter hab ich dadurch den ganzen Wei[h]nachten verdorben […].“17
Immerhin erklärte er sich nach Gesprächen mit seinen Eltern bereit, das Gymnasium bis zum Abitur besuchen zu wollen. Obgleich damit von außen gesehen Bitters Kurs als angehender Abiturient wieder in ruhigeres Fahrwasser geführt hatte, fühlte er sich innerlich zerrissen wie eh und je. Ein Muster, das sich in verschiedenen Konstellationen seines weiteren Lebensweges immer wieder neu zeigen sollte.
So gestand er sich 1928, ungefähr ein Jahr vor dem Abitur, selbst ein: „Ich befinde mich in einem Wirrwarr sond[e]rgleichen. Ich weiss nicht, was ich werden soll, ich weiss nicht, was ich wählen soll, ich weiss nicht, was ich tun soll. Ich werde von keinem verstanden. Vielleicht von einem, von meinem Klassengenossen Schepers18, sonst sind alle zu flach.“19
Nun mag man solche Äußerungen mit einigem Recht als Zeugnis einer Adoleszenzkrise ansehen oder abtun. Tatsächlich aber begleitete die angestrengte Sinnsuche und die radikale Infragestellung der eigenen Person ebenso wie aller möglichen Lehren Ludwig Bitter fast bis an das jähe Ende seines kurzen Lebens. Als Oberstufenschüler am Dionysianum blieb er jedoch auf Dauer beileibe nicht so isoliert, nicht so unverstanden, wie er es sich anfänglich einredete. Er pflegte Freundschaften mit Hugo Bendiek, einem Ibbenbürener Bäckersohn, und Hubert Hinterding, Spross einer Mesumer Bauernfamilie. Vorher (1927/28) war er mit einer Ria aus Mesum enger befreundet, die sich nach einem Dreivierteljahr von ihm trennte. Die Trennung machte ihm zeitweilig zu schaffen. Mit dem vermeintlich seelenverwandten Josef Schepers sollte er jedoch zeitlebens - anders als Hubert Hinterding - nie engeren Umgang pflegen.20
In seiner Klasse war er vermutlich einer der Wortführer. Denn nach der mündlichen Abiturprüfung monierte er das Verhalten seiner Mitschüler in einem vorherigen Konflikt mit der gesamten Lehrerschaft: „5 Tage vorher das große désastre [Unglück] mit den Lehrern. Da sah man[,] wie feige doch die Schüler sind, wenn es darauf ankommt.“21 Man hatte anscheinend Anstoß an Beiträgen in einer Zeitschrift genommen und den Schulrat eingeschaltet. Seine Reaktion war: „Mich lässt das kalt.“ 22
Schon auf der Oberstufe des Gymnasiums stieß er mit ein, zwei Studienräten heftig zusammen, die seine Berechtigung zur Ablehnung des Krieges als Mittel der Politik in Zweifel zogen, sich vielleicht auch etwas über ihn lustig machten. Sein Idealismus sei eine Manie. Außerdem könne jemand, der den Ersten Weltkrieg im zarten Alter von sechs bis zehn Jahren erlebt habe, den Krieg gar nicht glaubwürdig kritisieren. Er verstünde nichts davon.
Einer dieser Zusammenstöße veranlasste ihn zur Anfertigung einer schriftlichen Abrechnung mit solchen Standpunkten. Seinen undatierten autobiografischen Text „Ich glaube an Gott. In Tagebuchform“ durchtränkt kalter Zorn auf diese Pädagogen. Von denen müsse und wolle er sich gar nichts sagen lassen. „Manie! So tut man das ab! Manie! Erledigt. Nicht normal! Weil wir, ich es wagen, etwas vom Krieg zu wissen. […] Und doch rattern jetzt noch in meinem Ohr die flachen Güterwagen, die Zug für Zug an unserem Haus vorbeirollten. Unser Haus! Entschuldigt! Wir wohnten nur zur Miete. Aber direkt an der Eisenbahn! Und auf den Güterwagen saßen und standen die Soldaten […].
Und sangen und sangen: ' […] in der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehen.' Ja [,] es gab kein Wiedersehen für sie].“23
Sodann listet er bis zur Revolution und Inflation in Nachkriegsdeutschland akribisch auf, wann, wo und wie ein Junge wie er vom Krieg betroffen war und kleidet diese Aneinanderreihung in ein poetisches Gewand.24
Als Kommunist hatte er sich schon vorher gesehen25,was wohl auch seine Mitschüler wussten. Die meisten von ihnen entstammten dem mittleren und gehobenen Bürgertum.26
Durchblättert man den „Klassenspiegel“, die „Bierzeitung“ seines Abiturjahrganges 1929, finden sich deutliche Hinweise darauf, dass sie ihn sehr wohl verstanden, zumindest einzuordnen wussten. Jeder Abiturient wurde hier in Texten und Zeichnungen humoristisch-satirisch charakterisiert.
Bitters Person nimmt mehr Raum als andere ein, was seine mögliche Meinungsführerschaft in der Klasse unterstreicht. Zumindest dürften sich die Mitabiturienten an seiner Person gerieben, sich mit seinem Standpunkt auseinandergesetzt haben. Deutlich wird Bitters klares politisches Profil, das seinen Klassenkameraden und bestimmt ebenso den Lehrern vor Augen stand. Es zeigt einen – vielleicht etwas weltfremden - jungen Mann, der sich für die Unterdrückten, die Erniedrigten und Gedemütigten dieser Welt vorbehaltlos einsetzt. Russen und Chinesen stünden ihm womöglich näher als das eigene Volk. Die Gewalttaten der aufständischen, revolutionären Kräfte des Ostens rede er sich wohl schön.27
Hugo Bendiek, der dem Gymnasium „in den letzten Jahren innerlich ganz fern gestanden hatte“28, wird als Jüngling porträtiert, der über die letzten Fragen der Welt nachsinnt. Er unterliege einigen Stimmungsschwankungen. Mal sei er himmelhochjauchzend froh, mal zu Tode tief betrübt. Ihn scheine es in die Ferne zu ziehen, wo ihm vielleicht das Glück winke.29 Der Dritte im Bunde, Hubert Hinterding aus Mesum, erscheint als jemand, der ganz seinen geistigen Vorlieben lebt: der Literatur, vor allem aber der Musik. Man verdächtigte ihn, ein echter „Geistesstratege“ zu sein, wiewohl er schweigsam und einsam seiner Wege ginge.30
Die drei Schulfreunde hatten also ein größeres Feld gemeinsamer intellektueller Interessen zu bestellen. Auf dieser Basis kommunizierten sie miteinander. Gleichwohl waren in diesem Trio auch gegenseitige emotionale Anziehungskräfte wirksam. So suchten wohl alle drei, insbesondere aber Bitter und Hinterding, schon seit späteren Schulzeiten nach Menschen, denen sie sich uneingeschränkt öffnen konnten. Hierfür kamen zunächst nur Angehörige des eigenen Geschlechts in Frage. Sie besuchten eben ein Jungengymnasium. An halbwegs ungezwungene, freie Gespräche oder einen intellektuellen Austausch mit Mädchen war kaum zu denken. Auch an den männerdominierten Universitäten änderte sich das Bild nicht wesentlich.
Spottlied nach der Melodie:
„Der Gott, der Eisen wachsen ließ …“
„Tyrannenfeind, von ganzem Herz
Ist Bitter, hoch an Stärke
Er ruft gar oft in welchem Schmerz
Im Vers zum blut'gen Werke:
Zu tilgen von der ganzen Erd'
Die Herrscher alle mit dem Schwert,
So daß ein Reich von Brüdern
Ersteh und blühe nah und fern.
Daran will er mit rechtem Mut
Und ganzer Treue halten,
Und freudig der Tyrannenbrut
Die Schädeldecke spalten.
Und wer für Fürst und Reichtum spricht,
Den hauet er zu Scherben.
Der soll im Land der Zukunft nicht
Mit seinen Brüdern erben.
Noch einen grimm'gen Feind hat er
In der Mathes erblicket.
Denn dieses Fach, das faßt er sehr,
In Formeln er ersticket.
[…] Satz und Formel liebt er nicht.
Das sind zu harte Laute.
Er sieht voraus im Wahngesicht
Die Freiheit ferner Leute.“31
„Bitters Sinnbild - Willkommen teure Brüder!“
Quelle: „Klassenspiegel“, 1929. In: NLB