Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt. Norbert OrtgiesЧитать онлайн книгу.
und Maxim Gorki.144 Kein anderer Schriftsteller nahm ihn jedoch so für sich ein wie Leo Tolstoi: „Wenn ich den Namen Tolstoi aussprach, dachte, stand der Duft der wohltuend betäubenden, sensenreifen, taufrischen Wiesen vor mir auf, sah ich vor mir den Mann, der keinen Kompromiß in der sozialen Frage kennen wollte, der Urchrist zu sein, sich selber mit aller Härte antrieb.“145
Bitter stieg gleich in den zweiten Teil eines Russischkurses ein, belegte Übungen in Russisch für Fortgeschrittene und in russischer Lektüre. Wie er überhaupt eintauchte in alle möglichen weiteren akademischen Fragenkreise zu Russland. Theatergeschichte, Meereskunde und eine Veranstaltung zur Sexualität des Menschen runden den Eindruck eines breiter angelegten Studiums ab.
Hauptsächlich studierte Bitter bei Nikolaus von Arseniew, einem Slawisten, orthodoxen Theologen und Priester.146 1933 gelang es dem schon früh aus Sowjetrussland geflohenen Gegner der Sowjetherrschaft, seine Mutter und Schwestern aus der Sowjetunion „herauszukaufen“.147 In der nach dem Überfall von Nazi-Deutschland besetzten Sowjetunion arbeitete Arseniew vorübergehend für die deutschen Besatzer als Dolmetscher im Range eines „Sonderführers“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ er sich in den USA nieder.148 Im heute russischen Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, ist um die Frage seiner Ehrung als russischer Geistesgröße des 20. Jahrhunderts ein heftiger Streit entbrannt.149
Königsberg, Albertina (Universität), neues Universitätsgebäude, ca. 1929
Quelle: BArch, Bild 102-03065/Fotograf(in): Pahl, Georg
Sein akademisches Gegenbild verkörperte Martin Eduard Winkler, bei dem Bitter russische Kulturgeschichte studierte. Der deutsche Professor für Osteuropäische Geschichte und Leiter der historischen Abteilung am Institut für Russlandkunde hatte das frühe Sowjetreich auch auf Reisen durchs Land erkundet und beschrieben. Aus politischen Gründen durfte sich Winkler schon bald nach der sogenannten Machtergreifung Hitlers nicht mehr als Professor betätigen. Er wurde 1939 mit nur 46 Jahren zwangspensioniert. Seine umfangreiche Ikonensammlung, die Bitter im „Institut für Russlandkunde“150 „mit Entzücken“151 bewunderte, fand nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges ihre neue Heimat in Recklinghausen.152
Martin Winkler, Professor für Osteuropäische Geschichte. Porträt von Igor' Grabar', 1931
Quelle: Ikonenmuseum Recklinghausen
Von Anfang an fremdelte Bitter mit Ostpreußen und seiner Hauptstadt, fühlte sich einsam und verlassen: „Mich kann die Natur und Landschaft, die Stadt Königsberg, mit allem was darin ist, [..] nicht interessieren, und wenn andere von Sehenswürdigkeiten sprechen und Kunstwerken […] bleibe ich kalt.“153
Hauptgrund war seine erfolglose Gottsuche. „Wenn ich Gott hätte [unterstrichen von LB], könnte man mich nach Sizilien verbannen, er würde ja bei mir sein! Aber so weine ich vor Heimweh nach den Einzigen, die mich lieben, nach den Eltern und Geschwistern.“154
Nicht zuletzt belastete ihn, dass seine jahrelange Suche nach einer Partnerin immer aussichtsloser erschien.155 Passagen in seinem Tagebuch lassen vermuten, dass er sich nach dem Bruch mit seiner Mesumer Jugendfreundin noch einmal kurz und heftig verliebt hatte. Doch auch diese Beziehung, wenn sie denn nicht eine übersteigerte, rein geistige gewesen war, kann nicht sonderlich lange gedauert haben.156
In Königsberg fiel Bitter ein Büchlein des vormaligen russischen Revolutionärs und späteren Sowjetfunktionärs E. Jaroslavskij [Jaroslawski/Jaroslawsky] mit dem Titel „Wie Götter geboren werden, leben und sterben“ in die Hände. Nun konnte er es im russischsprachigen Original lesen.
Jaroslavskij, Emel'jan_Michajlovič. Karikatur, Urheber/in: o. Ang. Pseudonym: Ovod. ca. 1927. Jaroslavskij wird hier als Spürhund Stalins in den Machtkämpfen innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion dargestellt.
Quelle: Staatliches Museum für politische Geschichte Russlands. Gemeinfrei. In: https://commons.wikimedia.org/w/index.php? curid=5828905/11.05.2020
Und was er dort fand, erschütterte sein enges Verhältnis zur KPD für immer: „Nun beginnt mein Glaube an den Bolschewismus doch wankend zu werden. Nicht an den Kommunismus! [unterstrichen von LB] Wie ich mich nun augenscheinlich überzeugen konnte, fordern sie von jedem Bolschewik Haß, Kampf gegen die Religion. In dem Buch von Jaroslawsky „Wie Götter geboren werden[,] leben und sterben“, stehen neben des Nachdenkens werten Behauptungen solch unsinnige und kindische Beweisführung[en], daß das ganze auf eine gemeine Übertölpelung der Proleten herauskommt.“157
Bitter betonte die Bedeutung von Liebe und Frieden als religiös fundierten Werten des Christentums. Auch dessen religiöses Brauchtum, gerade das bevorstehende „heilige“ Weihnachtsfest verkörpere eine positive menschliche Tradition. Angesichts dessen sei die Art religiöser Aufklärung wie sie die Bolschewiki, in Sonderheit Jaroslavskij, betrieben als nicht angemessen rundum abzulehnen. Der Bolschewismus laufe auf die primitive Floskel von Religion als Betrug am Volk hinaus.158 Als Christ sah er sich jedoch immer noch nicht.159
Ihn fror jetzt aber in der Gemeinschaft vermeintlich Gleichgesinnter, in den Zusammenkünften der Königsberger Kommunisten : „[… ] ich ersticke vor Langeweile. [… ] Stunden wurden verquatscht über geschäftliche, organisatorische Fragen, mit bewußter Langsamkeit, weil man nicht weiß, wie man die Zeit totschlagen soll. […] sie halten sich für wissend, untereinander. Lohnt sich also nicht zu diskutieren [unterstrichen von LB]. […] Sie haben ausgelernt. Es geht ihnen nur noch darum, anderen ihr Wissen beizubringen.“160
Wenn Ludwig Bitter sich über Einsamkeit beklagte, ob in Münster, Königsberg oder anderswo, dann meinte er die Einsamkeit in der Masse der Menschen, die ihn nicht so verstanden, wie er verstanden werden wollte. Umgekehrt blieben sie ihm ebenfalls oft fremd.161 Die Gefahr, aus solch einer Perspektive heraus wahnsinnig zu werden oder gar durch Selbstmord zu enden, war ihm durchaus bewusst.162
Tatsächlich aber war er gut vernetzt in einer sozial-politisch aktiven Schicht von Akademikern, die beileibe nicht alle der KPD anhingen.163 Auch die beiden Professoren am Königsberger „Institut für Russlandkunde“ pflegten eine erstaunliche Nähe zu ihren Eleven: Sie luden die angehenden Slawisten in ihre Privatwohnungen ein, wo diese ihren Erzählungen über Russland lauschten und russische Volkskunst bestaunten.164 Der Kontakt zur Vermieterin seiner Königsberger „Bude“ war herzlich.165
Noch in Königsberg hatte Bitter nach vielen Anfechtungen, die selbst später noch lange nicht aufhören sollten, zum Glauben an Christus als Sohn Gottes zurückgefunden. Den Anstoß hierzu gab seine Auseinandersetzung mit den Lehren des mittelalterlichen christlichen Philosophen Cusanus (Nikolaus von Kues), dessen Lektüre er als gewinnbringend empfand und akzeptierte.166
Studierendenausweis der Universität Königsberg für Ludwig Bitter, 1930 (Montage von Teilen der Vorder- und Rückseite).
Quelle: NLB
Cusanus beweise überzeugend die Existenz Gottes, an die er – Bitter – ohnehin immer geglaubt habe. Weiterhin beweise er die Geschichtlichkeit und die Göttlichkeit Jesu.167 Und das hieß für ihn nun trotz aller ökumenischen Kontakte gerade während des Studiums: „Ich bin wieder Katholik.“168
Zwischen dem 28. und 30. November 1930 erklärte er (anscheinend schriftlich) gegenüber Josef Steiner, einem der führenden Köpfe der KPD Münsters169, seinen Austritt aus ihren Reihen170, blieb aber bis Ende März 1931 zur Fortsetzung seines Studiums in Königsberg.171 Dort setzte er sich mit dem Jesuitenpater Matthias Dietz, dem Studentenseelsorger an der Universität, in Verbindung,