Ausnahme / Zustand. Carsten BrosdaЧитать онлайн книгу.
die stolz ist auf ihr gut entwickeltes Gesundheitssystem und die glaubt, immun zu sein gegenüber einer Gesundheitskatastrophe, die irgendwo am anderen Ende der Welt ausbricht.
Die Angst vor dem Kontrollverlust
Wer auf die Zeit zurückblickt, in der das Virus vermeintlich weit weg in Asien oder – schon näher gerückt – in Norditalien wütete, der stößt auf viele Aussagen, die die Leistungsfähigkeit unserer Infrastrukturen und unserer gesundheitlichen Maßnahmen preisen. Dahinter war nicht selten die Annahme zu spüren, dass solche Pandemien zwar anderen passieren können, aber doch nicht einem so modernen und so hochtechnisierten Land wie Deutschland. Offensichtlich war der Glaube an die eigene Unverletzlichkeit bei uns ganz besonders ausgeprägt.
Wer den hiesigen Verlauf der Epidemie mit dem an anderen Orten der Welt vergleicht, stellt fest, dass eine solche Betrachtungsweise nicht ganz unbegründet ist: In Deutschland wurde früh viel getestet, die Sterblichkeitsraten waren durchweg vergleichsweise niedrig und die Belastungskapazitäten des Gesundheitswesens nicht ausgeschöpft. Im Rahmen möglicher Vorsorgebemühungen ist also vieles richtig gemacht worden, selbst wenn man sich zwischenzeitlich wundern musste, dass auf einmal die Verfügbarkeit eines eigentlich preiswerten Artikels wie Schutzmasken zum Problem werden konnte und alle bang auf die nächsten Tage schauten, ob noch ausreichend FPP2- und FPP3-Masken in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vorhanden waren. Abgesehen von solchen Ausnahmeerscheinungen aber blieb die objektive Stabilität der Versorgungssysteme gewährleistet.
Doch während die Gesundheitsversorgung weitgehend reibungslos weiter funktionierte, haben wir gespürt, dass unsere eigene Lebenssicherheit vielleicht nicht so stabil ist, wie wir bislang geglaubt haben. Sorgen vor einer zunehmend als unsicher empfundenen Zukunft bedrängen schon seit einiger Zeit unsere demokratische Öffentlichkeit. Wir haben uns in der Vergangenheit vielleicht nicht für unverwundbar gehalten, aber wir sind mindestens davon ausgegangen, dass uns so leicht nichts anhaben kann, dass schon einiges passieren muss, um uns aus dem Konzept zu bringen. COVID-19 und die zu seiner Eindämmung notwendigen Schritte fordern nun die Grundlagen unseres Lebensmodells frontal heraus. Wir spüren einen Kontrollverlust gleich in mehreren Dimensionen:
Unsere vielfach in einzelne, je ihren eigenen Logiken gehorchende Bereiche parzellierte Gesellschaft muss erleben, dass ihr bislang beinahe reibungslos wirkendes Funktionieren fundamental infrage gestellt werden kann. Plötzlich spannt sich eine existenzielle Frage von Leben und Tod auf, die alle anderen eher funktionalistischen Erwägungen an den Rand drängt. Plötzlich kann man selbst im wirtschaftlichen Bereich nicht mehr einfach entlang der Logik von Geld und Profit entscheiden, sondern muss feststellen, dass es Fragen gibt, die von solch grundsätzlicher Natur sind, dass sie alle anderen Erwägungen zurückdrängen. In der Folge dieser Erfahrung werden plötzlich Eingriffe möglich, die noch wenige Wochen zuvor undenkbar gewesen wären.
Die Wucht, mit der diese eigentlich sehr alte, aber für unsere Gesellschaft ungewohnte Logik des Überlebens in den Alltag beinahe aller sozialen Systeme hereingebrochen ist, kennt im Lebenszeitraum der meisten Bürgerinnen und Bürger keine Präzedenz. Selbst die vorangegangenen Schocks – der Terroranschlag vom 11. September 2001 oder der Zusammenbruch der internationalen Finanzmärkte in den Jahren 2008/2009 – hatten nicht die gleichen Breiten- und Tiefenwirkungen. Ihre Folgen waren für viele allenfalls mittelbar im Alltag spürbar. Die Konfrontation mit einem leicht übertragbaren und potenziell tödlichen Virus hingegen lässt sich auch im persönlichen Bewusstsein nicht so einfach zur Seite schieben.
Insofern dominierte sehr schnell das Gefühl, einer Gefahr gegenüberzustehen, die nicht zu den gewohnten Routinen passte und die insofern mit Alltagsintuition auch nicht verstehbar war. Auf einmal war sie da, die große, allumfassende Disruption, die wir seit vielen Jahren vor allem von technischen oder ökonomischen Umwälzungen erwartet hatten. Doch es waren weder digitale Technologien noch globale Vernetzung, die unsere Alltagsroutinen auf den Kopf stellten, sondern ein neuartiges Virus und unsere Versuche, mit dieser Bedrohung umzugehen.
Binnen weniger Tage haben die allermeisten Bürgerinnen und Bürger, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Osteransprache anmerkte, wesentliche Aspekte ihres Lebens verändert. Die dem zugrunde liegende solidarische Kraft in unserer Gesellschaft ist bemerkenswert gewesen. Aber die alles umspannende Herausforderung hat keinesfalls dafür gesorgt, dass sich auch die jeweils spezifischen sozialen oder ökonomischen Umstände anglichen. Persönliche und berufliche Lebenssituationen prägen, wie es sich mit einem partiellen Shutdown umgehen lässt. Und natürlich sind die Auswirkungen der wirtschaftlichen Vollbremsung in einigen Branchen besser zu ertragen als in anderen, wie zum Beispiel den kulturellen und medialen Bereichen, die auf jene Vorstellung gesellschaftlicher Öffentlichkeit gegründet sind, die wir zur Bekämpfung der Virusverbreitung in dieser Zeit nicht zulassen durften.
Es stimmt also nur eingeschränkt, dass das Virus ein großer Gleichmacher ist. Es stellt eine Gesellschaft in ihrer ganzen unübersichtlichen Komplexität vor dieselbe Herausforderung. Aber es verändert damit weder die Verteilung der Ressourcen, die es braucht, um der Herausforderung zu begegnen, noch die jeweiligen, sehr unterschiedlich zu tragenden Lasten.
Deshalb ist die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit dieser Herausforderung so entscheidend. Auch der Bundespräsident hat darauf in seiner Ansprache verwiesen und die Wegscheide beschrieben, an der wir gesellschaftlich schon länger stehen: »Schon in der Krise zeigen sich die beiden Richtungen, die wir nehmen können. Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder bleibt das neu erwachte Engagement für den anderen, für die Gesellschaft? Bleibt die geradezu explodierende Kreativität und Hilfsbereitschaft? Bleiben wir mit dem älteren Nachbarn, dem wir beim Einkauf geholfen haben, in Kontakt? Schenken wir der Kassiererin und dem Paketboten auch weiterhin die Wertschätzung, die sie verdienen? Mehr noch: Erinnern wir uns auch nach der Krise noch, was unverzichtbare Arbeit – in der Pflege, in der Versorgung, in den sozialen Berufen, in Kitas und Schulen –, was sie uns wirklich wert sein muss? Und helfen die, die es wirtschaftlich gut durch die Krise schaffen, denen wieder auf die Beine, die besonders hart gefallen sind?«
Vielfach ist zu Recht die enorme gesellschaftliche Solidarität herausgestrichen worden, zu der wir als Gesellschaft fähig sein können. Es wird eine der entscheidenden Aufgaben für die Zukunft sein, dieses Bewusstsein dafür, dass wir aufeinander bezogen sind und aufeinander achtgeben müssen, zu bewahren. Solidarität ist nicht nur eine Strategie des Überlebens in der Krise, sondern die Grundlage des Gemeinsinns unserer Gesellschaft.
Die vielfache praktische Solidarität im Kleinen, mit der wir versuchten, wenigstens im nahen Umfeld die Kontrolle nicht zu verlieren, korrespondierte mit einer Einschränkung gesellschaftlicher und individueller Freiheiten, die lange Zeit kaum vorstellbar war. Das Ausmaß, in dem wir im Frühjahr 2020 unser gewohntes Leben beschränken mussten, ist für eine moderne Demokratie eigentlich unvorstellbar. Doch weitgehend problemlos wurden Anordnungen und Verfügungen akzeptiert, die wir noch vor kurzem als gezielte Anschläge auf unsere freiheitliche Gesellschaft verurteilt hätten. Dass diese Akzeptanz möglich war, lag an der tiefgreifenden und alles andere überlagernden Angst vor den dramatischen Folgen des Coronavirus.
In der Öffentlichkeit hat die notwendige Aufklärung über die Situation und das in ihr angemessene Handeln bereits vorhandene Sorgen noch verstärkt. Die Dringlichkeit dieser Kommunikation hat mit dazu beigetragen, dass kritische Stimmen zu Beginn der öffentlichen Einschränkungen kaum zu vernehmen waren. Als Signal der Bedrohung begründeten sich die Einschränkungen quasi wie von selbst. Der Leiter der Abteilung Systemimmunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, Michael Meyer-Hermann, hatte am 8. April 2020 in einer Pressemeldung seines Zentrums auf diesen Zusammenhang hingewiesen: »Wir brauchten die offiziell verordneten Einschränkungen, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf die Gefahr durch die Epidemie zu lenken.« Das heißt, neben der unmittelbaren epidemiologischen Funktion sollten die Einschränkungen des öffentlichen Lebens offensichtlich auch pädagogisch wirken. Weil sie so drastisch waren, dass ihnen niemand entgehen konnte, haben sie nicht nur eine unmittelbare Wirkung entfaltet, sondern verdeutlichten darüber hinaus auch die nötige Dringlichkeit.
Ob allein durch das Virus oder auch durch die gesellschaftliche Reaktion