Der Steinzeitmensch in uns - Wie uralte Programme uns unbewusst steuern, wir aber trotzdem zivilisiert sein können. Wolfgang IsselЧитать онлайн книгу.
Körperliche und seelische Energie
Bisher war immer von Energie die Rede: Eine die ich körperlich freisetzen kann, indem ich jogge oder Holz spalte – oder welche Energie sollte denn sonst gemeint sein?
Bei meinem Roboter Roby ist es einfach: Da ist Robys Körper mit Armen und Beinen, die eben nicht durch Muskeln, sondern vielen Elektromotoren bewegt werden. Die Software sorgt dafür, dass jeder der Motoren seinen Strom so erhält, dass Roby z. B. winkt, ein paar Schritte macht oder nach einem Glas greift; elektrische Energie für die Motoren und die gleiche für die Recheneinheit, die mittels der Software das Verhalten des Roboters berechnet. Solange der Akku elektrische Energie liefert, gibt es keinen Grund für irgendwelche Einschränkungen in seiner Leistung. Ein Roboter kennt weder Müdigkeit noch Motivationsschwäche.
Beim Menschen werden die Muskeln als ausführende Elemente des Körpers nicht mit elektrischer, sondern chemischer Energie betrieben. Der entscheidende Unterschied besteht aber darin, dass es beim Menschen für die Berechnung seines Verhaltens nicht ausreicht, genügend chemische Energie im Gehirn bereitzustellen, vielmehr ist zusätzlich eine Art Steuerungsenergie nötig, damit der Algorithmus überhaupt arbeiten kann.
Ein Beispiel: Stellen wir uns Max vor, gestählt im Fitnesscenter, fähig und bereit, Bäume auszureißen. Aber er hängt antriebslos herum, weil ihn seine Freundin verlassen hat. Ein Kerl voller körperlicher Energie wird gelähmt durch einen Mangel an Steuerungsenergie, hier seelische Energie genannt. Selbst wenn sein Gehirn noch so gut mit Zucker als chemischer Energie versorgt sein sollte, kann er keine Motivation für irgendetwas aufbringen. Ganz ohne seelische Energie befindet sich sein Organismus im Stadium der Depression. Und in der Depression läuft gar nichts. – Wir werden noch davon hören, denn wir wollen herausfinden, warum in aller Welt die Natur das System seelische Energie eingerichtet hat.
Beim Menschen gibt es einen weiteren wesentlichen Unterschied zur Arbeitsweise eines Roboters: Mit vollem Akku ist Roby mit seinen Motoren im Körper, seinem Computer im Kopf und dessen Software voll einsatzfähig. Der Roboter schaltet sich ab, bevor sein Akku ganz leer ist. Demgegenüber kennt das menschliche Gehirn bei sinkendem chemischem wie auch seelischem Energiepegel Zwischenzustände, was die Präzision seiner körperlichen Abläufe wie auch die seines Algorithmus betrifft. Eine Studie der University of Bristol2 hat sich mit dem Zusammenhang zwischen Energieversorgung des Gehirns und mentaler Leistungsfähigkeit beschäftigt und kommt zu dem Ergebnis: Ist das Gehirn nicht ausreichend mit chemischer Energie versorgt, erhält es zunächst die Grundfunktionen aufrecht, um den Organismus am Laufen zu halten. Die geistige Leistungsfähigkeit, die als Letztes mit Energie versorgt wird, bricht dadurch ein und man kann nicht mehr klar denken. Die Folgerung ist, dass es eine geschichtete Struktur im Algorithmus geben muss: Auf unterster Schicht sind die Basics, die lebensnotwendigen Abläufe, darüber die Komfortschichten, die nur bei besonders guter Versorgung mit chemischer und seelischer Energie ins Spiel kommen – je größer der Mangel an diesen Energien, desto geringer die Performance des Menschen.
Heutzutage besteht in der Regel kein Mangel an chemischer Energie durch Hunger mehr, die Begrenzung der Leistungsfähigkeit muss daher von einer ungenügenden Versorgung mit seelischer Energie herrühren.
Ein alltägliches Beispiel: Wie gewinnen wir seelische Energie und wie verlieren wir sie? Zum Vergleich: Die Sonne scheint und der Morgenkaffee mit der wohlgelaunten Familie schmeckt vorzüglich. Die Verkehrslage ist kommod. Im Büro eine motivierende Aufgabe und die Kollegin hat Kuchen mitgebracht. Seelische Energie fließt reichlich zu: Ein guter Tag.
Oder: Regenwetter und Kopfschmerzen ziehen runter, die Kinder nerven schon beim Frühstück, der Verkehr ist chaotisch. Zu spät dran, der Chef wartet schon, eine lästige Besprechung steht an und die Kollegin ist kurz angebunden. Seelische Energie fließt in Strömen ab: Ein ausgesprochen mieser Tag.
Investition, Gewinn und Motivation
Was ist das Wesen der seelischen Energie? Klären wir das am Beispiel Hunger: Ein chemisches Defizit baut sich auf, indem im Blut die Konzentration von Glucose (Traubenzucker) absinkt. Eine größere Abweichung vom Normalzustand gefährdet vor allem die Energieversorgung des Gehirns. Dein Algorithmus muss nun schnellstens ein Verhalten errechnen und einleiten, um den Zuckerpegel wieder auf Normalhöhe zu bringen. Das tut er, indem er ein Hungergefühl erzeugt und dich damit auffordert, für Nahrung zu sorgen. Dieses unbefriedigte Bedürfnis Hunger bedeutet nach dem Modell der seelischen Energie die Belastung eines fiktiven seelischen Kontos. Je größer der Hunger, desto stärker sinkt der seelische Kontostand ab und muss durch Essen wieder aufgefüllt werden.
Dein wegen des Hungers unbefriedigter Algorithmus hat also den Auftrag, Nahrung zu beschaffen. Diese Aufgabe erfordert die Investition von Energie, also tröpfelt dein Algorithmus ein bisschen Adrenalin ins Blut und schon ist Energie zum Investieren da, um das Umfeld auf Nahrung hin abzuscannen. Besonders gesucht ist Zucker, da dieser kaum Energie zu seiner Verdauung benötigt, sozusagen netto und steuerfrei genossen werden kann. Ein Apfel gerät ins Blickfeld. Wie bei dem Kleid im Schaufenster entsteht starke Resonanz zwischen deinen bedürftigen neuronalen Netzen und dem lockenden Apfel mit der Aussicht auf Befriedigung des Hungers. Her mit dem Apfel und aufgegessen! Zucker satt und der Blutzuckerspiegel ist wieder im Normalbereich.
Was macht nun dein Algorithmus? Er schüttet dir in Anerkennung deiner erfolgreichen Aktion Belohnungssubstanz aus, die nicht nur dafür sorgt, dass das Hungergefühl verschwindet, sondern dir darüber hinaus die Empfindung eines Genusses und weitere gute Gefühle verschafft. Du bist befriedigt, dein seelisches Konto ist wieder ausgeglichen.
Was sind nun Belohnungssubstanzen? Mit dieser belohnt der Algorithmus im Auftrag der Natur seinen Träger, den Menschen, für eine erfolgreich ausgeführte Aktion, indem er Glückshormone, vor allem Dopamin, je nachdem aber auch Endorphine, Serotonin oder Oxytocin usw. ausschüttet. Diese Belohnungssubstanzen werden z. B. in besonderen Bereichen des Gehirns freigesetzt und verschaffen beim Andocken an spezielle Rezeptoren in Körper und Geist Wohlgefühl. – Belohnungssubstanzen sind also das chemische Pendant zur seelischen Energie und füllen beim Andocken dein seelisches Konto wieder auf. Im Übrigen hast du mit deinem erarbeiteten hohen seelischen Pegel Mutter Natur bewiesen, dass sich eine Investition in dich lohnt. Sie revanchiert sich entsprechend: Dein gestärktes Immunsystem tötet alles Schädliche bereits im Vorfeld ab, deine Organe laufen wie geschmiert, dein Hirn erblüht in voller mentaler Pracht und rundum herrscht Wohlbehagen: Energie in Fülle, innere Ruhe, hohes Selbstwertgefühl und zielgerichtete Tatkraft, dazu Widerstandsfähigkeit gegen jegliche seelische Unbill – Resilienz würde man heute Letzteres nennen.
Bleiben hingegen Erfolge aus und die Belohnungsrezeptoren offen und unbefriedigt, lässt dir dein Algorithmus schlechte oder gar belastende Gefühle und Ängste entstehen, die den Drang weiter verstärken, endlich für Erfolge und Befriedigung zu sorgen.
Da ist aber noch eine Kleinigkeit: Wenn ich die Motivation meines Roboters berechnen will, um zum Stillen seines Hungers einen Apfel vom Baum zu pflücken, ergibt dies nur dann mit menschlichem Verhalten übereinstimmende Ergebnisse, wenn ich voraussetze, dass das Gefühl einer Belohnung nicht erst beim Pflücken und Verzehren des Apfels selbst entsteht, sondern als eine Art Vorfreude bereits beim Anblick und der Vorstellung, bald diesen attraktiven Apfel genießen zu können.3 Wird der Apfel beim Pflücken dieser Voreinschätzung tatsächlich gerecht, ist alles okay und der Roboter befriedigt. Dem kann ich das einprogrammieren. Beim Menschen geschieht ähnliches, eben über chemische Prozesse: Erscheint der ins Visier genommene Apfel ansprechend, werden chemische Steuersubstanzen ausgeschüttet, die eine Motivation bewirken, den Apfel zu pflücken. Ist der gepflückte Apfel gar noch größer, röter und süßer als erwartet, bestätigt sich nicht nur die Vorfreude, sondern es fließt zusätzliche seelische Energie als Gewinn zu.
Zeigt sich der Apfel wider Erwarten aber eher minderwertig, auf seiner Rückseite z. B. von Vögeln angepickt oder angefault, tritt das Gefühl der Enttäuschung auf den Plan – mit erheblichem Abfluss seelischer Energie. Durch zu hohe Erwartung, eine falsche Vorkalkulation sozusagen,