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Wunderbare Weihnachten - Agatha Christie


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      Agatha Christie

      Wunderbare Weihnachten

      Aus dem Englischen von Lisa Franken

      Atlantik

      Die Versuchung

      Maria betrachtete das Kind, das vor ihr in der Krippe lag. Sie war allein im Stall – bis auf die Tiere. Ihr Herz war erfüllt von stolzem Glück, als sie auf ihr Kind hinablächelte.

      Da vernahm sie plötzlich Flügelrauschen, und als sie sich umwandte, erblickte sie unter der Tür einen großen Engel.

      Ein Strahlen wie der Glanz der Morgensonne umgab ihn, und die Schönheit seines Antlitzes war so groß, dass Marias Augen geblendet wurden und sie den Kopf abwenden musste.

      Und der Engel sprach zu ihr, und seine Stimme glich einer goldenen Posaune: »Fürchte dich nicht, Maria …«

      Maria aber antwortete mit ihrer lieben, sanften Stimme: »Ich fürchte mich nicht, o Abgesandter Gottes, aber das Licht deiner Erscheinung blendet mich.«

      Der Engel sprach: »Ich bin gekommen, um mit dir zu sprechen.«

      Maria sagte: »So sprich. Lass mich hören, was Gott der Herr mir gebietet.«

      Der Engel sprach: »Ich bin nicht mit Geboten gekommen. Aber da Gott dich besonders liebt, lässt er dich mit meiner Hilfe in die Zukunft sehen …«

      Maria blickte auf ihr Kind und fragte eifrig: »In seine Zukunft?«

      Ihr Gesicht erhellte sich in freudiger Erwartung.

      »Ja«, antwortete der Engel ruhig, »in seine Zukunft. Gib mir deine Hand.«

      Maria streckte ihre Hand aus und ergriff die des Engels.

      Es war, als ob eine Flamme sie berühre – eine Flamme jedoch, die sie nicht versengte. Sie schrak ein wenig zurück, und der Engel sprach erneut:

      »Fürchte dich nicht, Maria. Ich bin unsterblich, und du bist sterblich, aber meine Berührung wird dir nicht weh tun.«

      Dann breitete der Engel seinen mächtigen goldenen Flügel über das schlafende Kind und sprach: »Sieh in die Zukunft, Mutter, und sieh deinen Sohn …«

      Maria blickte geradeaus, und die Wände des Stalles schwanden und lösten sich auf, und sie schaute in einen Garten. Es war Nacht, und die Sterne leuchteten am Himmel, und ein Mann kniete dort und betete.

      Etwas regte sich in Marias Herz und sagte ihr, dass dies ihr Sohn war, der dort kniete. Dankbar sagte sie zu sich selbst: »Er ist ein guter Mensch geworden – ein frommer Mensch –, er betet zu Gott.« Doch dann hielt sie plötzlich den Atem an, denn der Mann hob sein Gesicht, und sie sah den Schmerz darin, die Verzweiflung und die Trauer … Und sie wusste, dass sie größere Qualen sah, als sie jemals gekannt oder gesehen hatte. Denn der Mann war vollkommen allein. Er betete zu Gott, betete, dass dieser Kelch der Qualen von ihm genommen werde – doch sein Gebet blieb ohne Antwort. Gott war fern und schwieg.

      Und Maria schrie auf: »Warum antwortet Gott ihm nicht und tröstet ihn?«

      Und sie hörte die Stimme des Engels, die sagte: »Es ist nicht in Gottes Ratschluss, dass er getröstet werde.«

      Da beugte Maria demütig ihr Haupt und sprach: »Es ist nicht an uns, die unerforschlichen Ratschlüsse Gottes zu kennen. Aber hat dieser Mensch – mein Sohn – keine mitfühlenden, menschlichen Freunde?«

      Der Engel rauschte mit seinem Flügel, und das Bild wechselte zu einem anderen Teil des Gartens, und Maria sah darin schlafende Männer liegen.

      Voller Bitterkeit sagte sie: »Er braucht sie – mein Sohn braucht sie –, und sie kümmern sich nicht!«

      Der Engel sprach: »Sie sind nur fehlbare menschliche Geschöpfe.«

      Maria murmelte zu sich selbst: »Aber er ist ein guter Mensch, mein Sohn. Ein guter und aufrechter Mensch.«

      Und wieder rauschte der Engelsflügel, und Maria sah einen Weg, der sich einen Hügel hinaufwand, und darauf drei Männer, die Kreuze schleppten, und eine Menge, die ihnen folgte, und römische Soldaten.

      Der Engel sprach: »Was siehst du jetzt?«

      Maria sagte: »Ich sehe drei Verbrecher auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung.«

      Der Mann zur Linken wandte den Kopf, und Maria sah ein grausames, verschlagenes Gesicht, einen niederen, bestialischen Kerl – und sie fuhr zurück.

      »Ja«, sagte sie, »es sind Verbrecher.«

      Da aber stolperte der Mann in der Mitte und stürzte beinahe, und als er sein Gesicht hob, erkannte Maria ihn und schrie heftig auf: »Nein, nein, es kann nicht sein, dass mein Sohn ein Verbrecher ist.«

      Aber der Engel rauschte mit seinem Flügel, und sie sah drei aufgerichtete Kreuze, und die Gestalt, die in Qualen an dem mittleren hing, war der Mann, den sie als ihren Sohn erkannte. Seine gesprungenen Lippen öffneten sich, und sie vernahm die Worte, die sie hervorbrachten:

       »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

      Und Maria rief aus: »Nein, nein, das ist nicht wahr! Er kann nichts wirklich Böses getan haben. Es muss ein furchtbarer Irrtum sein. So etwas gibt es zuweilen. Man muss ihn verwechselt haben; man hat ihn für jemand anderen gehalten. Er büßt für das Verbrechen eines anderen.«

      Abermals rauschte der Engel mit seinem Flügel, und diesmal erblickte Maria die Gestalt des Mannes, den sie auf Erden am meisten verehrte – den Hohepriester des Tempels. Er sah edel aus, und er erhob sich, und mit würdevoller Gebärde zerriss er das Gewand, das er trug, und rief mit lauter Stimme: »Dieser Mann hat Gott gelästert.«

      Und Maria blickte über ihn hinweg und sah die Gestalt des Mannes, der Gott gelästert hatte – und es war ihr Sohn.

      Dann verblassten die Bilder, und da war nur die Lehmwand des Stalles, und Maria bebte und schluchzte gebrochen: »Ich kann es nicht glauben – ich kann es nicht glauben. Wir sind eine gottesfürchtige, rechtschaffene Familie – meine ganze Familie und Josephs Familie auch. Und wir werden ihn sorgsam dazu erziehen, seiner Religion gemäß zu leben und den Glauben seiner Väter zu achten und zu ehren. Kein Sohn von uns könnte der Gotteslästerung schuldig sein – ich kann es nicht glauben! Was du mir gezeigt hast, kann nicht die Wahrheit sein.«

      Doch der Engel sprach: »Sieh mich an, Maria.«

      Und Maria sah ihn an und sah die Strahlen, die ihn umgaben, und die Schönheit seines Antlitzes.

      Und der Engel sprach: »Was ich dir gezeigt habe, ist die Wahrheit. Denn ich bin der Morgenengel, und das Licht des Morgens ist die Wahrheit. Glaubst du mir jetzt?«

      Und wider all ihren Willen erkannte Maria, dass wirklich Wahrheit war, was der Engel ihr gezeigt hatte. Sie konnte nicht mehr daran zweifeln.

      Tränen strömten über ihre Wangen. Sie beugte sich über das Kind in der Krippe, die Arme ausgebreitet, wie um es zu beschützen.

      »Mein Kind«, schluchzte sie. »Mein kleines, hilfloses Kind, was kann ich tun, um dich zu retten? Dir das zu ersparen, was da kommen wird? Nicht nur den Kummer und den Schmerz, sondern auch das Böse, das in deinem Herzen wachsen wird? Oh, es wäre besser, du wärest nie geboren worden oder bei deinem ersten Atemzug gestorben. Dann wärest du rein und unbefleckt zu Gott zurückgekehrt.«

      Und der Engel sprach: »Deshalb bin ich zu dir gekommen, Maria.«

      Maria sagte: »Was meinst du damit?«

      Der Engel antwortete: »Du hast in die Zukunft gesehen. Es steht in deiner Macht zu sagen, ob dein Kind leben oder sterben soll.« Maria beugte ihr Haupt, und unter unterdrücktem Schluchzen flüsterte sie: »Der Herr hat ihn mir gegeben … Wenn der Herr ihn mir wieder nehmen wird, so sehe ich ein, dass es barmherzig ist, und auch wenn es mein Herz zerreißt, unterwerfe ich mich Gottes Willen.«

      Aber der Engel sprach sanft: »So ist es nicht. Gott gebietet


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