Data Intelligence. Manfred KulmitzerЧитать онлайн книгу.
einen Grundbegriff als „die erste Grundlage, von der eine Sache her bekannt ist“ [03]. Das Grundbegriffe-Denken ist eine elegante Art „Ich denke wie ein Wissenschaftler“ auszudrücken.
Wissenschaftler gehen nicht von irgendwelchen Annahmen aus, sondern beginnen immer mit Fragen, wie beispielsweise „Worüber sind wir absolut sicher, dass es wahr ist? Wie wurde dies bewiesen oder wo bereits aufgezeichnet oder niedergeschrieben?“
In der Theorie erfordert das Grundbegriffe-Denken, dass man immer tiefer und solange nach den darunterlegenden Details gräbt, bis man nur noch die grundlegenden Wahrheiten einer Aufgabenstellung vorliegen hat.
René Descartes, der französische Philosoph und Wissenschaftler, hat diesen Ansatz mit einer Methode übernommen, die heute als kartesischer Zweifel bezeichnet wird, bei der er "systematisch alles anzweifeln würde, was er möglicherweise anzweifeln könnte, bis er mit etwas zurückbleibt, was er als zweifelsfreie Wahrheit ansieht" [03]. Um die Vorteile des Grundbegriffe-Denken in der Praxis zu nutzen, muss man jedoch nicht jedes Problem bis auf die unterste (atomare) Ebene herunter brechen, um es zu vereinfachen. Meist reicht es, nur ein oder zwei Abstraktionsebenen tiefer zu gehen als die meisten Menschen und auf jeder Abstraktionsebene präsentieren sich dann verschiedene Lösungen.
John Richard Boyd, ein berühmter US-amerikanischer Kampfpilot und Militärstratege, schuf das folgende Gedankenexperiment [16], welches sehr gut zeigt, wie man das Grundbegriffe-Denken in der Praxis anwenden kann:
Man stelle sich vor, die folgenden drei Dinge zu haben: Ein Motorboot mit Wasserskiern dahinter, einen Militär-Panzer und ein Fahrrad.
Nun zerlegen wir diese Dinge in ihre einzelnen Bestandteile: Das Motorboot in Benzinmotor, Bootsrumpf und ein Paar Skier; den Panzer in Metallketten vom Antrieb, Stahlplatten und eine Kanone; das Fahrrad in Lenkstange, Räder, Getriebe und einen Sitz.
Was kann man nun aus diesen Einzelteilen herstellen? Eine Möglichkeit wäre die Herstellung eines Schneemobils [17], indem man den Lenker und den Sitz vom Fahrrad nimmt und mit den Metallketten vom Panzer, sowie dem Benzinmotor und den Skiern vom Motorboot kombiniert.
«Das Grundbegriffe-Denken folgt einem sehr einfachen, sequentiellen Prozess.»
Das hier angeführte Beispiel beschreibt den Prozess, mit dem nach den Grundbegriffe-Denken immer vorgegangen wird. Es ist ein Kreislauf, bei dem ein Problem (in meinem Beispiel „das Ding“ genannt) in seine Kernelemente zerlegt und diese Einzelbestandteile dann wieder passend für eine neue Lösung zusammengesetzt werden. Dieser einfache Prozess für das Grundbegriffe-Denken wird in der nachstehenden Grafik veranschaulicht:
Der Prozess für das «Grundbegriffe-Denken»
Aus diesem einfachen Prozess lässt sich die folgende Vorgehensweise zur Anwendung des Grundbegriffe-Denkens erläutern: Erst das Problem in die Einzelteile de-konstruieren, dann die Einzelteile klar beschreiben und das Problem vollständig verstehen, und schließlich aus definierten Einzelteilen eine neue (oder optimierte) Lösung re-konstruieren.
Das Grundbegriffe-Denken und der dazugehörige Prozess lassen sich zwar relativ leicht beschreiben, es scheint aber dennoch schwierig in der Umsetzung zu sein. Viele Menschen haben gute Ideen, das zeigt alleine schon die beträchtliche Zahl an vorliegenden, aber kaum umgesetzten Patentanträgen.
Schwieriger wird es dann schon bei der ersten praktischen Umsetzung der Idee über einen Prototyp hinaus. Eines der Haupthindernisse für die Anwendung des Grundbegriffe-Denken ist die zutiefst menschliche Tendenz, eher die Form als die Funktionsweise zu optimieren.
«Das Grundbegriffe-Denken stellt generell eine Herausforderung dar.»
Die Geschichte des Reisekoffers [18] ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Im alten Rom benutzten die Soldaten lederne Kuriertaschen, um beispielsweise Lebensmittel mit dem Pferd zu transportieren - zur gleichen Zeit hatten die Römer viele Fahrzeuge mit Rädern, beispielsweise Streitwagen, Kutschen und Waggons. Und doch dachte Tausende Jahre lang niemand daran, die Tasche mit dem Rad zu kombinieren.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden Ledertaschen [19] für bestimmte Verwendungszwecke spezialisiert - für die Schule oder für Wanderungen. Im Jahr 1938 wurden die Taschen mit Reißverschlüssen versehen und Rucksäcke aus Nylon wurden erstmals 1967 verkauft. Trotz dieser Verbesserungen blieb die Form der Tasche weitgehend unverändert - man verbrachte die ganze Zeit damit, leichte Anpassungen am gleichen Thema zu machen.
Was oft nach Innovation aussieht, ist meistens eine Anpassung früherer Formen und keine Verbesserung der Kernfunktion. Einer - leider nicht überprüfbaren - Legende zufolge wurde der erste rollende Koffer, welcher es in die Produktion und in die Massenverbreitung geschafft hat, im Jahr 1970 erfunden, als Bernard Sadow sein Gepäck durch einen Flughafen schleppte und dabei sah, wie ein Arbeiter eine schwere Arbeitsmaschine auf einem Radschlitten rollte.
Während sich andere darauf konzentrierten, wie man eine bessere Tasche (die Form) bauen kann, überlegte Sadow, wie man die Funktionsweise - das effiziente Lagern und Bewegen von Reiseutensilien - verbessern kann [18].
«Eine Innovation lässt sich mit dem Grundbegriffe-Denken besonders gut erzeugen.»
Das weiter oben gezeigte Beispiel mit dem Schneemobil zeigt ein weiteres Merkmal des Grundbegriffe-Denkens, nämlich die Kombination von Ideen aus scheinbar nicht verwandten Bereichen. Ein Panzer und ein Fahrrad scheinen auf den ersten Blick nichts gemeinsam zu haben, aber Teile eines Panzers und eines Fahrrads können durchaus so kombiniert werden, um daraus eine Innovation wie in diesem Fall ein Schneemobil zu entwickeln.
Viele der bahnbrechendsten Ideen in der Geschichte sind das Ergebnis der Zerlegung der der Dinge auf die Grundbegriffe und die anschließende Zusammensetzung der wesentlichen Teile in eine effektivere Lösung. So kombinierte im Mittelalter der Erfinder Johannes Gutenberg zum Beispiel die Technologie der Schneckenpresse - einer Vorrichtung zur Herstellung von Wein - mit beweglichen Buchstaben sowie mit Papier und Tinte, um die erste Druckerpresse zu schaffen [21].
Der bewegliche Schriftsatz wurde zwar schon seit Jahrhunderten verwendet, aber Gutenberg war der erste, der die Bestandteile des Verfahrens berücksichtigte und die Technologie aus einem ganz anderen Bereich adaptierte (eben die Schneckenpresse), um den Buchdruck wesentlich effizienter zu machen. Das Ergebnis war eine Innovation, welche die Welt veränderte, und zum ersten Mal in der Geschichte war die weit verbreitete Verteilung von Informationen möglich.
«Die beste Lösung ist oft nicht jene, woran alle anderen schon gedacht haben oder gerade denken.»
Das Grundbegriffe-Denken ermöglicht es, Informationen und Erkenntnisse aus verschiedenen Disziplinen miteinander zu kombinieren, um neue Ideen und Innovationen zu schaffen, wobei man sich aber immer an die Fakten der Grundbegriffe halten muss. Dieser Prozess führt zu einer umfassenderen Suche nach besseren Ansatzpunkten und zur Optimierung, also den Ersatz für bekannte oder bestehende Grundbegriffe einer bestehenden Lösung.
«Durch die regelmäßige Anwendung des Grundbegriffe-Denkens lernt man, selbstständig zu denken.»
Die menschliche Neigung zur Nachahmung ist ebenso ein häufiges Hindernis für das Grundbegriffe-Denken. Die meisten Menschen stellen sich die Zukunft vor, indem sie die aktuelle Form nach vorne projizieren und anpassen, anstatt die Funktionsweise nach vorne zu projizieren und die Form komplett aufzugeben.
Um den technischen Fortschritt zu kritisieren, fragen manche Menschen zum Beispiel gerne: „Wo sind denn die vielfach angepriesenen, fliegenden Autos?“ Das Grundprinzip bzw. Faktum ist nun jenes: „Wir haben bereits fliegende Autos - nur nennt man sie eben Flugzeuge.“ Menschen, welche die obige Frage stellen, sind so auf die Form (ein Flugobjekt, das wie ein Auto aussieht) konzentriert, dass sie die Funktionsweise (Transport von Waren und Menschen durch Flug) übersehen [16].
Darauf bezieht sich auch Elon Musk, wenn er sagt, dass „die Menschen oft das Leben nach der Analogie leben“. In den gleichen Denkstil fallen Stereotypen. „Ich kannte mal einen armen Menschen, der dumm war, also müssen alle armen